Sommerwanderung 2004

Sonntag, 1. August 2004

An meinen Rucksack habe ich mich nun schon während den letzten Tagen gewöhnt – mit Vreni zusammen von Zweisimmen aus, mit leichterem Gepäck auf Rinderberg, Rellerli und Lauenensee und gestern mit Vollpackung von Gsteig die Nordwand hinauf auf den Sanetschpass. Einem Muskelkater habe ich gar keine Chance gegeben und so fühle ich mich ziemlich gewappnet und bereit für die diesjährige Sommerwanderung mit Hans auf die Trienttal-Rundwanderung. Seen, Pässe und Gletscher werden uns versprochen, ja sogar 200 Millionen Jahre alte Dinosaurierspuren! Voll solcher Erwartungen sitze ich nun in Martigny bei einem Kaffee und warte auf die Einfahrt des Zuges, mit welchem Hans, Esti, Klaus, Marie-Louise, Lykke-Lise und Hansruedi aus Basel ankommen. Margrit und Knud müssen heute noch an einer Erst-August-Feier ein paar Volkstänze zum Besten geben. Sie werden dann morgen zusammen mit Liselotte in Les Marécottes zu uns stossen. Das Wetter ist uns hold und die Aussichten für die nächsten Tage absolut wanderfreundlich.
Mit dem Postauto geht’s nun zuerst hoch über Martigny hinauf in schwindelnde Höhen. La Caffe heisst hier ein kleines Kaff, von wo sich der Bus auf enger Strasse in vielen Kehren  bis zum Col de La Forclaz hinaufwindet.
Im Hotel auf der Passhöhe können wir unseren Rucksack im Dortoir schon deponieren. Leichten Fusses könnten wir also heute Nachmittag noch allerlei unternehmen. Eine geheimnisvolle Schlucht unten am Tête Noir wäre zu erkunden. Ideal als Einstieg und Vortraining für morgen. Esti macht sich am Fahrplan schlau und wir finden halb drei eine gute Zeit, um mit dem Postauto die Talfahrt zu machen. Bis dahin bleibt mehr als eine schöne Stunde, die wir unter schattigen Lärchen mit herrlicher Aussicht aufs Rhonetal auf der Krete des Forclaz bei Picknick und Siesta verdösen.
Auf der Passhöhe macht ein cleverer Walliser Bauer das Geschäft seines Lebens. Er hat einen kleinen Stand und verkauft Aprikosen zu 6.50 das Kilo, Erdbeeren und Tomaten. Noch ehe man sich überlegen kann, drückt er einem schon eine schöne Aprikose in die Hand zum Probieren. Sie sind wirklich reif und köstlich. Doch fünf reichen mir als Proviant für heute.

Picknick auf dem Col den La Forclaz…

Um halb drei kommt auch pünktlich das Postauto, allerdings aus der anderen Richtung. Ja nu, falsch geschaut, dann nehmen wir halt zum Heimfahren den Lift, das Richtige fuhr vor zwanzig Minuten hier ab.
Ein kleines Stück geht’s der Bisse entlang, die eisiges Wasser über vier Kilometer vom Trientgletscher herüberführt. Dann geht’s nur noch abwärts. Zum Glück im schattigen Wald. Warum auch das Wallis überall so steil sein muss! In Trient unten wird es etwas angenehmer, aber nur bis wir uns wieder auf der Strasse befinden, wo man wegen dem Verkehr fast um sein Leben fürchten muss. Am Tête Noire befindet sich eine Postautohaltestelle und hier wird die Abfahrtszeit nun genau inspiziert, bevor man sich wieder in die Tiefe stürzt. Immer weiter über Treppen und Zickzackweglein hinab. Und das müssen wir alles wieder hinauf! Ob das meine Puste aushält? Soll ich umkehren, damit es mir sicher aufs Postauto reicht? Aber doch nicht, ohne meine Nase in die Schlucht gesteckt zu haben! Sogar eine mysteriöse und erst noch eine Grotte der Nymphen ist zu sehen.

hinein…. …in die Schlucht… …und die Nymphen-Grotte

Es hat sich wirklich gelohnt. Der abenteuerliche Holzsteg der Felswand entlang und hinten die Treppen und Stufen! Sie führen einen hinein in die Grotte, nahe zu den Kaskaden, wo man auch besser in die von Steinen und Wasser ausgeschliffenen Pfannen der Mühlen blicken kann.
Nun bin ich aber wieder unruhig. Soll ich mit Hans und Esti den untern Weg zurück nehmen, wo vielleicht noch mehr Schlucht zu sehen ist, der aber mehr als eine Stunde dauert? Ich traue meiner Puste nicht und entscheide mich zusammen mit Marie-Louise und Lykke-Lise für den bekannten Rückweg, der nur 40 Minuten dauert. Schlussendlich sind dabei fast 250 Meter zu überwinden.
Meine Befürchtungen waren jedoch wieder mal alle hand- und fusslos oder gründeten auf der sich langsam bemerkbar machenden Senilität, welche mich stetig zu noch früheren Zeiten am Bahnhof eintreffen lässt, um ja den Zug nicht zu verpassen. 5 Minuten unterhalb der Postautohaltestelle können wir auf einem Bänklein in aller Ruhe noch die eingekauften Aprikosen und die Aussicht hinüber nach Finhaut geniessen. Auch den Weg der rot-weissen Bahn, welche sich dort drüben dem Hang entlang und durch viele Galerien zwängt, kann man von hier aus ein gutes Stück überblicken. Wir haben noch eine halbe Stunde bis das Postauto kommt!

…mit Sicht auf Finnhaut

Fast bei der Strasse stossen auch Klaus und Hansruedi wieder zu uns. Ich habe nicht bemerkt, dass sie sich beide von uns abgekoppelt haben. Hansruedi fühlt sich nämlich nicht so ganz fit und er will wohl seine Kräfte noch ein bisschen zusammenhalten.
Das ungeduldige Warten auf’s Nachtessen um 7 Uhr kann man sich noch etwas abkürzen mit verschwitzter Wäsche waschen und SMS schreiben, welches mit etwas Glück draussen vor dem Haus auf der Strasse weggeschickt werden kann. Dann decke ich mich beim Stand noch mit einem Pfund reifen Aprikosen als Reiseproviant ein.
Endlich können wir! Hans hat einen kleinen Coupon, welchen er gegen sieben Nachtessen eintauschen kann. Im Nu ist schon die feine Suppe verputzt und alle halten den Teller nochmals zum Auffüllen hin. Dann gibt’s Poulet, Ratatouille, Pommes und Broccoli. Der Glacédessert, welchen Hans wegen seiner Milchproduktabstinenz zur Seit schiebt, ist im Austausch gegen einen Apfel schon wieder verschwunden, ehe sich jemand von uns daran vergreifen konnte. Das nächste Mal musst du das nicht so schnell zurückgeben!
Inzwischen ist meine Wäsche hinter dem Haus getrocknet und genüsslich auf dem Reitseil schaukelnd, bewundern wir das leise Erröten des grossen Gletschers bei all den vielen Aiguilles des Montblanc Massivs. Auch Richtung Rhonetal beginnen sich die dunklen Berge immer kontrastreicher gegen den Abendhimmel abzuzeichnen. Ist dieser bizarre Klotz dort vorn wohl die Rochers de Naye? Mit der ausgebreiteten Karte unter dem Gipfelkreuz kann man das im letzten Tageslicht dementieren.

Feierabend

Noch ehe es ganz dunkel wird, erklimmen wir nochmals die Höhe, wo wir heute Mittag Siesta gemacht haben, wo man so weit ins Rhonetal hinauf sieht. Dort steht auch der Holzstoss für das Höhenfeuer bereit. Eine Familie mit Kindern wartet da auch auf die Dunkelheit. Im Tal funkeln schon überall lautlos farbige Raketen. Langsam wechselt das Tal in ein Meer von tausend Lichtern, zusammengeballt zu grossen Nestern oder manchmal wie zu einer langen Kette aufgereiht. Ein erstes Feuerwerk sprüht seine farbig leuchtenden Kugeln über einen Bergrücken hinaus. Das muss Verbier sein.
Nun kommt der Feueranzünder mit Kanistern voll Petrol. Im Nu brennt der Holzstoss lichterloh. Am Schluss gebe es dann einen Glühwein, kündet er an, ehe er sich wieder davon macht. So kommt es, dass wir zusammen mit der welschen Familie ein ganzes Erstaugustfeuer für uns alleine haben, zum Geniessen und zum Träumen. Dem geheimnisvollen Züngeln der orangen Flammen vor dem samtschwarzen Nachthimmel-Hintergrund zuzuschauen macht fast melancholisch. Marie-Louise hat sogar daran gedacht, Bengalische Zündhölzer von zuhause mitzubringen. Der Vater entzündet ein paar Stöckli und Raketen, welche leuchtende Kugeln fast lautlos in den Nachthimmel pfupfen. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich an den Text des Kanons, welchen wir einst im Franzi gelernt haben, mit sechzig noch erinnern könnte. „Entendez vous dans le feu, tous ces bruits mystérieux. Ce sont les tisons qui chantent: compagnon, sois joyeux!” Wir haben gelernt compagnon und nicht wie sie hier singen près le feu. Auch das alte Chalet kommt dran und noch ein paar weitere Lieder, gesungen oder nur gesummt, da man ja vom Text höchstens eine Strophe weiss.
Wir sind uns alle einig: dies ist eine der friedlichsten Erst-August-Feiern die man schon erlebt hat.
Jetzt kommen zwei Frauen mit einem grossen Topf, wohl mit dem Glühwein, und einer grossen Haken-Stange. Noch sieht man sicher vom Tal herauf unsern Funken und es dauert bestimmt noch eine ganze Weile, bis man so nah herangehen kann, dass man den Kessel über das Feuer hängen kann. Solange möchten wir nun doch wieder nicht mehr aufbleiben und wir verabschieden uns. Vielleicht kommen noch andere Gäste und helfen trinken.
Zum Einstimmen in unsere Wanderwoche bietet sich dieses erste Lager als kleiner Schalldämpfer an. Ein Vierer-Kajütenbett, bei welchem man sich flach wie eine Flunder machen muss, will man zwischen der Dachschräge und der Hühnerleiter in die obern Gefilde gelangen. Auch Hans zieht beim einzeln stehenden Kajütenbett das obere vor, weil dieses noch nicht ganz so eine Hängematte ist. Zwei winzige Fensterchen bringen am Tag zwar kaum Licht, dafür wenigstens ein klein bisschen frische Nachtluft zum Atmen. Trotzdem flieht der Schlaf vor mir und auch vor Lykke-Lise neben mir. Hätten wir doch gewartet und vom Glühwein getrunken….

nach dem Startfoto vor dem Haus…

Montag, 2. August

Nach dem Startfoto vor dem Haus verschwindet unser Grüppchen bald hinter dem Haus im Wald. Ich bin dankbar, dass der steile Pfad, den wir erklimmen und der uns von 1528 auf fast 2000 Meter bringt, durch den angenehmen Schatten eines duftenden Tannenwaldes führt. Trotzdem keucht und tropft es schon bald. Esti und Hans spurten voraus und ich entdecke, dass ich mit 60 wieder etwas gelernt habe. Weil mein Atem in diesem Tempo nicht Schritt halten kann, lege ich einen kleineren Gang ein und der Abstand wird halt langsam grösser und es macht mir nichts aus. Ich kann zu meinem eigenen Tempo stehen.

der Aufstieg vom Col de la Forclaz auf den Mt. de l’Arpille

Bei der ersten Verschnaufpause muss ich mal mein Handy konsultieren. Ich habe vergessen, es auszuschalten, dabei wollte ich doch Strom sparen. Prompt hat es penetrant aus dem Rucksack gepiepst. Das kann jetzt eigentlich nur mein Junior gewesen sein. Ja, er hat mir eine schöne Erst-August-Rakete als SMS geschickt und nun muss ich alle an meinem Handy-Freudeli teilhaben lassen.
Hansruedi hat auch heute etwas Mühe mit dem Aufstieg. Er hat gestern bei unserer kleinen Feier am Feuer gefehlt und ist nach dem Nachtessen schon ins Bett gegangen. Etwa zehn Minuten nach unserer ersten Rast ist sein Entschluss gefasst. Er kehrt um. Er musste vor sechs Wochen einen chirurgischen Eingriff vornehmen lassen und hat wohl noch an den Nachwirkungen der Lumbalanästhesie zu kauen. Wir tauschen unsere Handynummern aus und er verspricht, ein SMS zu schicken, wenn er unten angekommen ist. Ein kleiner Dämpfer hat sich nun doch auf unsere Stimmung gelegt. Hätte man ihn nicht doch begleiten sollen? Er ist zwar ein geübter und sehr erfahrener Wanderer.

auf dem moorigen Hochplateu

Bald haben wir ein unbewaldetes, mooriges Hochplateau erreicht. Bei einem kleinen Seelein mit Blick hinüber zu den Trientgletschern würde es sich für eine Rast gut sein lassen. Eine Familie, bepackt mit Schlafmatten nimmt uns die Entscheidung ab. Auf der Krete habe es bestimmt eine schöne Aussicht und ein kleines Plateau, wo man rasten kann. Sie haben oben geschlafen und gestern Nacht wohl alle Höhenfeuer im weiten Umkreis gesehen. Sie versprechen uns auch, etwas Ausschau zu halten, ob Hansruedi gut nach unten gekommen ist.

und wenig später auf dem Gipfel desMt. de l’Arpille

Ein paar Minuten später haben wir den höchsten Punkt des Mont d’Arpille auch schon erreicht und zu unseren Füssen breitet sich das Rhonetal aus, bis hinauf nach Sion, von wo es sich so langsam im Dunst zu verstecken sucht. Rechts das Val de Bagnes und das Val d’Entremont. Zwischen den beiden Tälern türmen sich erhaben und majestätisch weiss die Gletscher des Grand Combin. Solche Aus- und Augenblicke möchte ich am liebsten immer festhalten, einbrennen in mein Gedächtnis und nicht mehr hergeben. Verzweifelt versuche ich dies mit meiner Kamera, was jedoch meist nur wie ein klägliches Gestammel wird. Dem Apparat fehlt das Gefühl, das zu sehen, was ich sehe und sein Auge kann nicht ausbalancieren zwischen dem hellen Weiss oder der dunstigen Distanz.
Gerade will ich mich an einer frischen Aprikose aus dem Rucksack gütlich tun, als sich ein SMS ankündigt. Mit Erleichterung kann ich bekannt geben, dass Hansruedi unten angekommen ist und bei einem Most nun aufs Postauto wartet. Er wird gerade beauftragt, seine Absenz im Hotel des Marécottes selber anzukünden und wir geben ihm die Telefonnummer bekannt.
Die fünf Frauen, die auch mit uns im Col de La Forclaz übernachtet haben, erscheinen ebenfalls auf der Bildfläche. So gesprächig sie gestern während dem Essen waren, uns gegenüber verhalten sie sich zurückhaltend. Dass sie heute nach Salvan gehen, können wir ihnen gerade noch entlocken, dabei möchte Esti von ihnen noch viel mehr wissen. „Also dann im Café in La Crêta“. Sie verschwinden aber in der entgegengesetzten Richtung, als die, die  wir eine Weile später unter die Füsse nehmen. In Esti als passionierter Orientierungsläuferin haben wir natürlich die perfekte Pfadfinderin und Kartenleserin mit uns. Uns passiert es nicht so schnell, dass wir die falsche Route erwischen. Tatsächlich holen uns die fünf erst wieder ein, als wir schon unsern ganzen Lunch vertilgt haben und schon am Kauen des Zwetschgensteins sind, den uns Hans aus seinem Gedankenbüchlein vorgelesen hat. „Was ist eigentlich Kunst?“ Man befindet sich mitten in einer ernsthaften Diskussion. Perplex und fast ungläubig, dass wir schon hier sind, passieren die fünf Frauen schweigend und verschwinden in der Tiefe. Hier beginnt nämlich der grosse Abstieg von 1845 auf 707 Meter unten am Fluss Le Trient. Zum Glück alles wieder durch den Wald, ausser bei La Crêta, wo uns hoffentlich ein Café wartet.
Die Knie schlottern schon recht und die ersten Blasen quälen bereits, als endlich die Dächer von La Crêta zwischen den Tannen in Sicht kommen. Eine friedlich schlummernde Oase hoch über steilen Felsbändern, ein kleines Älpchen im Sonnenschein. Bunte Schirme und Sonnenanbeterinnen in lieblichen Ferienhausgärtchen, flatternde Fahnen, aber keine, die zu einem Restauräntchen gehören. Nichts ist mit einem Kaffee. Einzig ein Brunnen vor dem Gemeindehaus, wo auf einem Balkon eine Kirchenglocke installiert ist, spendet herrlich frisches und kühlendes Wasser. Lykke-Lises Blase wird von Hans vorerst kunstvoll verarztet. Im Hotel folgt dann später der zweite Teil der Operation.

Brunnenwasser statt Kaffee

Weiter geht’s hinunter und hinunter. Esti sammelt Wetteinsätze, wenn sie sich unten der Länge nach in den Bach legen würde. Endlich einmal ein Wanderer der uns auf unserem Weg entgegenkommt. Es ist Knud, der sich auf die Suche nach unserer Gruppe gemacht hat. Die restlichen Drei sind am frühen Nachmittag in Les Marécottes eingetroffen und wohl hat er gespürt, dass sein Frauchen heute schon ziemliche Strapazen hinter sich hat. Wir freuen uns jedenfalls für Lykke-Lise, dass sie ihm ihren Rucksack für heute abtreten kann.

vor dem Gemeindehaus in la Crêta und es geht weiter hinunter

Von unten tönt immer lauter und verlockender das Rauschen des Baches herauf. Esti wird immer schneller und schneller. Magisch zieht das Wasser sie an. Will ich ein Foto vom versprochenen Bad, muss ich mich auch beeilen. Wir wollen beim Brücklein auf die Andern warten. Esti hat sich schon ins Badkleid gestürzt und tut es dem Labrador nach, der eben gerade hier auch dasselbe tat. Unter dem Brücklein hat es eine etwas tiefere Stelle, wo man sogar richtig untertauchen kann. Man, das heisst Esti. Ich bin vollauf zufrieden mit einem Fussbad. Das Wasser ist nämlich eisig. Mich tschuderets vom blossen Zusehen. Hans, Lykke-Lise und Knud haben uns inzwischen eingeholt und nehmen gerade den Aufstieg in Angriff. Sie wollen ihre Füsse nicht zischen sehen.

Esti im eiskalten Trient

Die Füsse abgekühlt und vom Sand befreit, wieder in den schweren Schuhen steckend, geht’s von jetzt an wieder bergauf. Les Marécottes liegt auf 1110 Meter. Das sind also volle vierhundert Meter, fast Diretissima. Irgendwo wäre hier noch eine Höhle oder eine Schlucht zu besichtigen. Aber unser Sinn steht nur noch nach einem kühlen Bier und dabei die Füsse hochzulagern. Langsam und immer langsamer gewinnen wir an Höhe. Endlich kommen erste Anzeichen von besiedeltem Gebiet. Ein zu einem Ferienhäuschen umgebauter Stadel, dessen vier Ecken richtig walliserisch auf vier Pfosten ruhen, welche mit einer runden Steinplatte gekrönt sind. Dann stehen wir plötzlich in einem Zeltplatz. Liebevoll gehegte und gepflegte Miniaturgärtchen, wo es grünt und blüht, als gelte es einen Wettbewerb zu gewinnen. Ein letztes Doping für Marie-Louise aus der Wasserflasche und endlich geht’s die letzten paar hundert Meter nur noch geradeaus.

im Hotel les Marécottes…

Im ansprechenden, neu renovierten Hotel des Marécottes empfängt uns eine lustige Wirtin. Margrit wollte uns in Empfang nehmen, aber wahrscheinlich sind wir eben gerade durch die andere Strasse eingetrudelt. Sie erzählt mir von dem Glück, das Hans, Lykke-Lise und Knud hatten. In der Nähe des Stadels wäre eben die Höhle oder Schlucht gewesen, welche die drei noch besuchen wollten. Der Zutritt wurde aber gerade geschlossen, dafür kamen sie in den Genuss einer Spezialtaxifahrt bis vors Hotel. Darum sehen sie schon so frisch gewaschen und ausgeruht aus. Auch ich will nun den Komfort von Bad und Warmwasser geniessen. Die Duschen sind zwar nicht im Zimmer, jedoch ist für jede Nummer im gemeinsamen Waschraum eine separate Kabine und ein separates Lavabo vorgesehen. In Reih und Glied. Während Esti nun in Nummer 23 verschwindet, fülle ich das dazugehörige Lavabo mit Warmwasser und es geht meinem verschwitzten Hemd heute an den Kragen. Drinnen funktioniert die Dusche auf Knopfdruck. Jedoch das Wasser sei viel zu warm und Esti findet nicht heraus, wie dies einzustellen ist. Das muss doch machbar sein! Hier draussen ist eine Armatur hinter der Tür und ich probiere mal daran zu manipulieren. Es funktioniert tatsächlich. Mit etwas Verzögerung kann mir Esti sagen, wann die Temperatur gut ist. Es scheint, dass hier ein Handlanger gebraucht wird, wenn man duschen will.
Den besten Platz für meine Wäsche habe ich auf der Terrasse gefunden. Direkt an der warmen Hauswand. Das sollte reichen bis nach dem Nachtessen. Aber vorher mal endlich ein kühles Panaché. Im Beizchen nebenan versammelt sich ein Teil der Gruppe zum Aperitif. Um das Dörfchen zu inspizieren fehlt mir der Mumm. Meine Füsse haben genug. Dabei gäbe es von hier aus eine Seilbahn hinauf nach La Creusaz. Von dort über den Colette-Pass wäre eine andere Variante zum Lac Salanfe zu gelangen. Auch das Brotbackhaus ist noch eine Foto wert.

Brotbackofen in Les Marécottes

Fast ungeduldig warten wir bis um sieben Uhr das Salatbuffet eröffnet wird. Wir sind zwar nicht die einzigen Gäste, aber bis wir unsere Teller gefüllt haben, muss der Koch schon wieder Neuen bringen. Deshalb ist es wohl sicherer, wenn er und die Chefin beim Hauptgang schöpfen.
Grosse Bäume ausreissen mag ich heute nicht mehr. Noch ist es gar nicht dunkel und ich verziehe mich. Mein Nestchen ist heute gegen die Wand im französischen Bett zusammen mit Esti. Es ist zu hoffen, dass ich dank meiner Müdigkeit heute Nacht weniger fegneste als gestern.

Dienstag, 3. August

Gestärkt durch ein ausserordentlich reichhaltiges Frühstück mit Müesli, diversem frischem Brot und Früchten, marschieren wir bei blauem Himmel und Sonnenschein los. Zuerst ein Bisschen der Teerstrasse entlang, aber es hat überhaupt keinen Verkehr hier oben, oder es ist zu früh! Bald zweigt der Weg jedoch zur Schlucht hin ab und schon ist es wieder steil. Hans und Esti wollen zuerst noch 200 Meter weiter unten den Wasserfall gesehen haben.

Aufbruch am Morgen mit Blick auf unsere gestrige Tour über den Mt de l’Arpille

Ich bin zufrieden mit der Schlucht. Kunstvoll sind hier hölzerne Wege und Stege und steile Treppen an die Felswand geklebt. Das Gartenhag-Geländer ist zum Teil so nah am Felsen, dass man sich mit dem Rucksack direkt hindurchzwängen muss. Die Stöcke versorgt man besser, damit man auch die Hände für die Treppenbezwingung gebrauchen kann. Weit hinten Kaskaden von erfrischendem Wasser und oben wieder ein wunderbarer Ausblick ins Tal,  dort wo die Rhone das Knie macht.

schon wieder eine Schlucht

Weil es hier so viele Heidelbeeren hat, wird schon das erste mal gerastet. Liselotte holen wir in Van wieder ein. Hat es ihr gereicht für einen Kaffee? Dem Bach entlang verschwinden wir wieder im Wald. Auch hier wieder Kaskaden mit Wasser. Ehe wir den Wald verlassen, sehen wir gerade noch eine Gruppe in Neoprenanzügen, die sich anseilen. Canyoning für den Nervenkitzel. Na ja, jedem das Seine. Wenn ich die steile Wand anschaue, welche wir noch erklimmen müssen, ist das ja auch auf seine Art gesponnen.

Van, im Hintergrund die Felsbarriere nach Salanfe

Auch das Dörfchen Van sieht irgendwie utopisch aus. Winzig erscheinen mir die Häuschen, fast wie eine Zwergensiedlung. Zuhinterst im Tal, ehe es wieder steil aufwärts geht, wird auf dem Campingplatz noch aufgetankt. Den zweiten Morgenkaffe oder für mich ein kühles Rivella. Margrit will lieber noch durchziehen, solange sie noch Puste hat. Den Weg kann man kaum verfehlen. Es scheint, dass es ein Baumeler-Pfad ist. Alle paar Meter sind auf Weg und Steg orange Punkt gesprüht. Die Bergwegzeichen sind zugegebenermassen nicht allzu gut zu finden. Etwa auf halber Höhe geniesst die Vorhut jetzt den Schatten einer Lärche neben einer Schlucht. Mittagsrast mit Gemsenausblick und Zwetschgenstein aus dem kleinen Büchlein von Hans. Die langsam heraufgezogenen dunklen Wolken scheinen es nun doch nicht allzu ernst zu meinen. Vielleicht kommen wir doch noch trocken am Lac de Salanfe an. Noch weitere 250 Meter in der Diretissima und wir haben die Felsbarriere einigermassen überwunden. Zum Trost und Dessert kredenzt Esti für jedes ein Canärli aus Morand-Apricotin als Verschnaufpausen-Proviant. Ziemlich eben geht es nun in ein Tal hinein, welches weit hinten durch eine lange Staumauer begrenzt wird.

Inspektion des Polygonpunktes

Am Fuss der Mauer inspizieren wir eine der verschiedenen hier in der Gegend herumstehenden weissen Säulen. Der Blechdeckel mit der Schraube verleitet geradezu, das Ding abzumontieren. Es kommt aber nur ein flach gedrehtes Podest zum Vorschein. Es ist ein Polygonpunkt, wo das Messgerät des Geometers montiert wird. So kann man mit diesen verschiedenen Messpunkten genau beobachten, ob sich irgendwas an oder bei der Mauer verändert.

Ankunft in der Auberge de Salanfe

Nun ist nur noch die Höhe der Staumauer zu überwinden und wir werden mit Glockenklang des kleinen Kapellchens der Maria de la marche willkommen geheissen, welches auf einem leicht erhöhten Felsen nahe bei unserer Herberge thront.

die Kapelle Maria de la Marche über dem Vallan de Van

Zuerst müssen die Schuhe aus- und die bereitgestellten Schlappen angezogen werden, ehe man uns ins Dortoir führt. Es ist ein grosser Raum mit 18 Schlafplätzen. Und wir haben uns bitte nicht zu sehr auszubreiten, das Haus wird heute voll und wir müssen noch mit Fremden den Raum teilen. Für drei Franken könnte man duschen.

Es ist noch früh am Nachmittag und die Wolken haben sich wieder etwas zurückgezogen. Wer hindert uns daran, ein Bad im Stausee zu nehmen? Liselotte, Esti und ich machen uns auf den Weg zum Ufer, dort wo es ein bisschen flacher scheint. Bald sind die beiden Wasserratten am Schwimmen und Spritzen. Ich begnüge mich wieder mal mit einem Fussbad, diesmal mitsamt meinen superleichten Sandalen, auf dass auch diese wieder ein bisschen besser duften. Ich glaube sie mögen meine Wandersocken nicht.
Neue Gewitterwolken schieben sich wieder langsam über den Himmel. Von der Kapelle möchte ich gerne noch ein Bild machen, solange die Sonne darauf scheint. Zwei Buben haben herausgefunden, wie man die Glocke läuten kann. Für jeden Besucher kommen sie angerannt und ziehen um die Wette am Strick, der im Innern des Kirchleins an einen Stecken gebunden aus der Wand hängt. Sie waren es also, die uns zur Begrüssung geläutet haben.
Die Wolken dräuen immer mehr und die Sonnenterrasse beginnt sich zu leeren. Die ersten Blitze zucken ringsum und das Echo des Donners hallt von den Felswänden hernieder. Wie gut, dass wir so frühzeitig angekommen sind. Einer kleinen Gruppe von etwa vier Buben mit ihrem Leiter hat es nicht gereicht. Sie fragen um Unterkunft, aber wir seien scheins ausgebucht. Sie stimmen darüber ab, welchen Weg sie nun weiterziehen wollen und zotteln wie nasse Mäuse von dannen. Drei Stunden Abstieg liegen noch vor ihnen.
Gelangweilt durchstöbert man den Heftliberg im Aufenthaltsraum bis zur Essenszeit. Einige schreiben Karten oder orientieren sich auf der grossen Reliefkarte an der Wand über unsere weitere Route. Nur SMS’len kann man von hier nicht. Kein Empfang! Also gibt es heute keinen Tagesrapport oder Gutenachtgeschichte für René.
Der Lärmpegel, den an die Hundert Herbergsgäste beim Nachtessen verursachen, legt sich nach und nach und erstaunlich bald sind alle ruhig und gesittet in den Dortoirs verschwunden. Nicht mal mit dem Hornochsenspiel konnte ich jemand begeistern.

Mittwoch, 4. August

Ein neuer Tag mit blauem Himmel und spiegelndem See lockt uns über die noch nassen Alpweiden ennet der Staumauer in Richtung Col d’Emaney.

der Tour Sallière mit Dôme und Eglise (v.l.n.r)

Das geschützte schwarze Kohlröschen Nigritella nigra, bei uns Männertreu genannt, duftet nach Vanille oder Schoggi mitten aus einer kleinen Greina und auch aus Klausens Knopfloch. Doch bald liegen auch die grünen, von sanften Bächlein durchschlängelten Matten weit unter uns und statt Männertreu findet man nur noch wundersam maserierte Schiefersteine, welche sich vielleicht als Brosche eignen könnten. Lykke-Lise will nur den schönsten Stein im Rucksack heim nehmen. Deshalb entscheidet sie sich immer nur für einen, wen er noch schöner ist als der Letzte, welcher dann auf der Strecke bleiben muss. 

Aufwärts…

Im Schweisse unseres Angesichts erkeuchen und erklimmen wir die 2462 Höhenmeter des Passübergangs. Die letzten Meter begleitet mich neben Prusten und Keuchen jeweils eine gewisse Spannung und Neugier. Wie sieht es drüben aus? Es ist immer wie eine Buchseite umzublättern. Feine, vom Tal heraufquellende Nebelfetzen machen alles noch geheimnisvoller.

geheimnisvoll auf dem Col d’Emaney

Eins ums Andere arbeitet sich über die Krete empor und saugt den Genuss eines neuen Landschaftsbildes in sich auf. Eine grosse dreieckige Felswand des Aboillon, an deren Fuss sich zwischen dem fächerartig heruntergerieselten feinen, grauen Geröll noch die letzten Schneeresten der Lawinen erhalten haben. Zum Teil hat sich auf den kiesigen Mahden schon ein Hauch von grünem Gras angesiedelt. Tiefer unten im Tal weiden auf noch saftigeren Matten schwarzweiss gefleckte Kühe. Man kann unseren Weg gut verfolgen. Zuerst geht’s weit hinunter bis zum Vieh und dann über das Einzugsgebiet der vielen Wässerchen, hinauf zu einem Wasserfall, dessen Bach unter einem Schneefeld vom Pass auf der andern Seite des Dreieckberges herunter kommt. So wunderbar die neue Aussicht ist, zum Verweilen lädt der kalte Wind hier nicht ein. So wird auch schon der Abstieg in Angriff genommen. Ein junges Murmeltier schert sich nicht um den warnenden Pfiff seiner Mutter oder uns bucklige Zweibeiner. Es will erst alles genau gesehen haben, ehe es sich aufmacht, im entfernteren Munggenloch zu verschwinden. Bestimmt kassiert es dort deswegen Schelte.

das ungehorsame Murmeli

Auf Kuhhöhe wird dann erst Halt gemacht. Eine Schulter muss gepflegt werden. Ich habe nicht bemerkt, dass Marie-Louise gestürzt ist. Eine verknackte Schulter und ein 5-Tages-Rucksack! Das Grüppchen, das den zweiten Pass nicht mehr erklettern will, wird grösser. Die Strecke dem Bach entlang hinunter nach le Tretien oder Finnhaut ist nicht unbedingt kürzer, jedoch geht es viel sanfter und vorwiegend abwärts. Liselotte, Lykke-Lise und Margrit schliessen sich Marie-Louise an und auf der Höhe von genau 2000 Metern trennen sich unsere Wege.

am Wasserfall vorbei…. über Schneefelder….

Der Unsrige steigt erneut steil an, vorbei an und im Wasserfall, dann über das Schneefeld bis zu einem Bödeli, das nach Ausruhen und Mittagessen ruft. Bei einem grossen Stein, im Schutz vor Wind, können sich die Geister für den letzten Anstieg sammeln. Da man eh nicht sehr gesprächig sein kann, weil die Puste gebraucht wird, ist ein dargebotener ‚Zwetschgenstei’ aus dem kleinen Büchlein von Hans wie ein kleines Dessert. Ich bin heute an der Reihe und ich finde die Geschichte nicht schlecht von Michelangelo, den man bewunderte, wie er solche Wunderwerke aus einem Stein hervorholen könne. Er meinte dazu, dass es einfach sei, man müsse nur alles Überflüssige entfernen. Wenn wir das Nebensächliche und Störende entfernen könnten, kommt in jedem Menschen das Wunderbarste zu Tage.
Lebendiges Kies macht unsere letzte Steigung nochmals anstrengend und mein Wasservorrat ist erschöpft, ehe wir auf dem Pass wieder eine neue Bilderbuchseite umblättern können.

bis zum Col de Barberine

Von Gletschern und Schneefeldern gesprenkelte Dreitausender erheben sich über dem tief unter uns liegenden Lac d’Emosson. Noch verbirgt ein Bergrücken die Staumauer und damit unser heutiges Ziel. Eine kleine Verschnaufpause und ein Schluck aus der Flasche lässt Estis Blick über die bizarren Felsrücken der umliegenden Berge gleiten. Dort – ein Steinbock! Es ist zwar viel zu weit fürs Objektiv, jedoch man kann deutlich zwei Tiere auf den Felsen herumklettern sehen.

im Kaulquappenteich

Wir wählen ein winziges Seelein auf einem grünen Zwischenbödeli schon von hier aus als unseren nächsten Rastplatz aus. Rinnsale von klarem Quellwasser sprudeln in Bächlein über Felsen und begleiten unseren Weg. Erfrischend und kalt erlabt es aus der frisch gefüllten Flasche meine durstige Kehle. Die Erquickung für die Füsse muss noch warten bis zum Bödeli. Ob sich all die vielen kirschengrossen Kaulquappen auch über den dampfenden Käsegeruch ergötzen?
Das letzte Stück Weg bis hinunter zur Strasse, welche noch ein gutes Stück dem See entlang führt, ist nicht mehr so gut unterhalten und vom Regenwasser zum Teil recht tief ausgeschwemmt und abgegraben. Esti ist vorausgeeilt. Sie hüpft sowieso wie ein Eichhörnchen die steilsten Hänge hinunter und skatet voll Wonne über noch vorhandene Schneefelder. Auf der Teerstrasse will sie die Schuhe wechseln. In der Hütte dort, welche wieder genau auf 2000 m Meereshöhe liegt, geniessen zwei Fischer einen gemütlichen Feierabend bei einem Glas Wein und herzlich werden wir auch gerade zu einer Runde eingeladen. Nur, lange wollen wir nicht verweilen. Der Himmel hat sich inzwischen völlig verdunkelt und bis zu unserer heutigen Unterkunft im Restaurant du barrage d’Emosson sind es noch gut zwei Kilometer. Ein Stück des Weges führt am Schluss noch durch einen langen Tunnel. Das Lied der drei Zigeuner und viele andere erste Strophen tönen gar schauerlich wundervoll, so dass beim Ausgang die Passanten stehen bleiben und sehen wollen, aus wie vielen Personen dieser Chor besteht. Nur vier!! Knud ist uns nämlich ziemlich voraus geeilt. Ganz enttäuscht will niemand einen Obolus in meinen herumgereichten Hut legen.
Der Regen konnte sich nun zurückhalten, bis wir schön am Trockenen hinter einem heissen Tee sitzen. Die andern Vier sind noch nicht eingetroffen. Das letzte Postauto ist schon wieder ins Tal gefahren. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Von Chatelard führt die steilste Standseilbahn der Welt mit 87% Steigung (in Luzern behaupten sie dies zwar von der Pilatusbahn auch) in die höheren Gefilde dieser Region. Dort kann man in eine Rüttel-Panoramabahn umsteigen, welche von jugendlichen Lockführern nahezu abenteuerlich auf gleichmässiger Höhe dem Berg entlang bis zum Fuss der Staumauer führt. Dieses Bähnli wurde seinerzeit für den Bau der Mauer gebraucht. Den letzten Rest von fast 100 Metern Höhe bewältigt nun noch die Minifunic, die uns nun die vier leider etwas nassen Freunde bringt. Glücklich, wer die exklusive Fahrt trotz dem exklusiven Preis von Fr. 50.- trotzdem geniessen konnte.

Die Emosson-Staumauer

Heute Nacht können wir uns zusammen mit den fünf welschen Frauen, denen wir seit dem Col de la Forclaz nun immer wieder begegnet sind, im Untergeschoss des Restaurants in einem muffigen Dortoir installieren. Esti hat nun schon herausgekriegt, dass sie aus dem Burgund stammen und drei davon Schwestern sind. Eine hat sich auch verletzt und wird die Heimreise antreten. Zwei Räume nebenan mit nochmals je 20 Plätzen werden bald von einer Horde Kinder und Jugendlichen  aus aller Herren Länder belegt, die an einem internationalen Lager teilnehmen. Duschen sind hier zwar gratis vorhanden, aber bis wir an der Reihe sind, ist das Wasser schon fast aufgebraucht  und der Duschraum ist überschwemmt. Die Burgunderfrauen haben zugeschlagen. Zum Glück wollen all die Jungen nicht auch noch!
Dafür ist das Gewitter inzwischen weitergezogen und weisse Wolkenkugeln kullern über die Gletscher und Täler des gegenüberliegenden Mont Blanc Massivs. Die Sonne begleitet mich sogar schon wieder auf meine Wallfahrt hinauf zur Kapelle, die auch hier auf einem kleinen Hügel über der Staumauer errichtet wurde. Vom geschmolzenen Wachs der vielen Kerzen duftet es fast wie Weihnachten, dabei leuchten durch alle Fenster Blumen aus farbigem Glas gearbeitet. Zu den vielen brennenden Kerzlein gesellen sich auch ein paar von uns. Man erwartet dafür, dass man einen Franken ins Kässeli legt, das ganze Portemonnaie hier zu lassen, ist bestimmt leicht übertrieben. Zum Glück kennt Esti die Besitzerin.
Nach dem Nachtessen sitzt man noch ein bisschen gemütlich zusammen und probiert nun mit dem Text aus dem Lalibu, sich die heute im Tunnel abhanden gekommenen weitern Strophen wieder in Erinnerung zu rufen.

Donnerstag, 5. August

Frühstück gibt’s heute erst um halb acht. Der Wirt hat sich also für uns ein Bein ausgerissen und frisches Brot organisiert. Tee und Kaffee gibt’s tassenweise aus der Maschine. Wenn es eine Frühstücks- und Unterkunft-Bewertungstabelle gäbe, fände man dieses hier ziemlich weit hinten. Liselotte bestellt etwas Käse. Für sieben Personen kommt ein Stück zu etwa 100 Gramm auf den Tisch. Ob sie das nachher extra bezahlen muss, weiss ich nicht. Knud holt jedenfalls aus den Tiefen seines Rucksacks einen riesigen Salami. Den hat er jetzt den ganzen Weg mitgeschleppt. Bestimmt ein Kilo! Höchste Zeit, dass wir ihm helfen, sein Gewicht zu reduzieren.
Auch unsere heutige Route beginnt auf einer Staumauer. Nicht alle jedoch mit Vollpackung. Marie-Louises Entschluss ist gefasst. Sie bricht ab. Ihr Arm behindert sie nun doch zu sehr. Auch Liselotte will uns nur noch bis ennet der Mauer begleiten, dann werden beide im Postauto nach hause reisen. Liselotte meldete noch vor dem Abmarsch im Hotel Belle Vue zwei Personen ab. Statt neun wären wir sieben. Die Wirtin tut ahnungslos und behauptet, dass sie schon alles bereit gemacht hätte für 14! Diese Zahl wurde jedoch bestimmt noch vor ein paar Tagen von Esti korrigiert.
Margrit möchte sich den massiven Auf- und Abstieg von 30 rsp. 60% sparen und probiert, die Alp de Loriaz auf dem Pfad, der fast auf gleicher Höhe von hier aus rund um den Berg, der auf meiner Karte ‚les Perrons’ genannt wird, zu erreichen. Ich habe ihr mein Handy mitgegeben. Notfalls könnte sie Knud funken.
Bei der zweiten Abzweigung verlockt der Wegweiser zu einer halbstündigen Abkürzung. Anstatt durch ein unattraktives Tobel hinauf zum alten Emosson Stausee, führt uns der Bergweg durch ein romantisches Tälchen, wo uns Wässerchen begleiten, Murmeltiere beäugen und die diversesten Blumen erfreuen, sodass wir uns zu unserem Entschluss gratulieren.

Noch sind wir keine Viertelstunde unterwegs, da läutet auch schon Knuds Telefon. Margrit ist auch umgekehrt, die Felsnasen auf dem recht schmalen Pfad haben sie nun doch von ihrem Vorhaben abgeschreckt, sich allein bis zur Alp durchzuschlagen. Sie wird uns in Vallorcine im Hotel Belle Vue wohl erwarten.
Was an unserer Abkürzung vielleicht negativ tönt, ist, dass wir von der erreichten Passhöhe nochmals einen Abstieg von etwa 100 Metern in Kauf nehmen müssen, wollen wir die Dinosaurier Spuren, welche vor 160 Millionen Jahren da in den Sand getreten und vor etwa 50 Jahren entdeckt wurden, auch noch sehen. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen. Wie kann es sein, dass in weichen Sand getretene Spuren und von Wellen geformte Rillen, zu Stein erstarrt, Millionen von Jahren später auf in einem Winkel von 40° aufgestellten Platten, auf 2000 Metern in unseren Alpen wieder zum Vorschein kommen?

vor 160 Millionen Jahren war hier ein flacher See

Eine Wissenschaftlerin von einem Museum in Genf ist jeden Tag hier oben und bietet Führungen an. Wäre sicher noch interessant, verstünde man besser französisch. Wir haben jetzt einfach die etwa 20cm grossen Pfoten- oder Tatzenabdrücke dieser 3 – 4½ Meter grossen Saurier, welche eine Schrittlänge von etwa zwei Metern hatten, gebührend fotografiert und suchen uns etwas abseits für unsere Mittagsrast einen trockenen Stein. 

Dinospuren

Der Himmel ist bedeckt und über den Col de Corbeaux gegen das Cheval Blanc, dessen Weg hier abzweigt, wälzt sich eine schwarze Nebelwolke. ‚Unser’ Pass, der Col de la Terrasse sieht im Moment noch nicht so garstig aus. Eine grosse Felsnase überragt den Sattel, den wir in Angriff nehmen wollen. Dort oben bewegt sich doch was. Ein Wanderer? Nein es sind die Hörner eines Steinbocks. Auch Esti hat sie gesehen, ehe sie wieder verschwunden sind. Ein kleiner See soll uns dort oben auch erwarten. Ob Esti heute wohl genügend heiss hat, um sich dort auch hineinzulegen? Diese Entscheidung wird ihr aber abgenommen. „Leise – dort – der Steinbock!“

der Steinbockfelsen spiegelt sich im Lac Vert

Von wegen einer! Zwei, drei klettern auf der Felsnase herum und bieten eine tolle Silhouette. Die Andern weiter vorn sind auch stehen geblieben und schauen gebannt zum Felsen hinüber. Von dort kann man einen ganzen Alpabzug beobachten. Vielleicht 50 Meter entfernt kommen 2 Tiere über eine Krete herunter. Ziemlich genau auf der Schweizergrenze balancierend. Oben im Fels werden wir von etwa 5 weiteren Tieren beobachtet. Eines davon eine Mutter mit einem Jungen. Langsam gehen wir weiter auf der andern Seite, wo ein spektakulärer Bock sich gemächlich Richtung Wanderweg bewegt. Knud und ich gehen leise mit unserem Fotoapparat auf ihn zu. Es sind sicher keine zwanzig Meter Abstand mehr, als ich das Rudel hinter Felsblöcken entdecke. Ein Foto von einem Tier, mit dem Weiss eines Gletschers im Hintergrund gelingt mir. Gemütlich fressend ziehen sie an uns vorbei, hinüber Richtung Steinbockfelsen. Hans sitzt inzwischen ruhig dort drüben und sie lassen sich von ihm nicht stören. Es sind sicher keine 10 Meter, die sie vor seiner Nase passieren.

vor unsern Füssen vorbei

Noch ganz benommen von dem Erlebnis, welches nicht nur für unsere Dänen, sondern bestimmt auch für alle von uns nicht etwas Alltägliches ist, wandern wir auf einem Schneefeld beim Lac Vert vorbei und beinahe verpasst man darob auch diese Schönheit in sich aufzunehmen. Bizarr der Steinbockfelsen, der sich im See spiegelt und darüber die dräuende Wetterwolke. Und schon stehen wir vor dem nächsten Abenteuer. Die Passhöhe ist erreicht und zwischen riesigen Felsbrocken geht’s nur noch in die Tiefe. Der Weg ist kaum auszumachen und fast mit jedem Schritt befindet man sich einen Meter tiefer als zuvor. Man sollte hier besser ein bisschen nahe beieinander bleiben. Gar schnell ist unbedacht ein Stein losgelöst, welcher sich in die Tiefe stürzt. Je weiter sein Weg, desto grösser sein Tempo und selten bleibt einer dabei allein. Bald sind aber über uns andere Wanderer am Absteigen und prompt schallt auch ein warnender Schrei von oben. Zwei drei Steine poltern keine fünf Meter neben mir herunter. Ich habe inzwischen den Weg auf der Grasnarbe erreicht. Im Zickzack von etwa zwei, drei Metern wendet der Weg immer wieder bis man über ein Geröllfeld etwas nach rechts aus der Gefahrenzone heraus kommt.
Das Geröllfeld hat für Hans wieder eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Wie auf einem Schneefeld rutscht und hüpft und gleitet er in der Direttissima hinunter, magnetisch angezogen von einem verlockenden wirklichen Schneefeld. Wenn der sich nur nicht in den Steinen was bricht! Ich habe Angst um ihn. Das Schneefeld hingegen lockt auch mich. Ich steige nur nicht so hoch ein, wie Hans und Esti. Diesen Spass hat mir Hans schon bei unserer ersten Wanderung beigebracht. In einem unten sanft auslaufenden Feld hat man Höhenmeter viel schneller und mit viel mehr Vergnügen überwunden.
Weiter unten sieht man den Weg wieder gut, wo er durch Alpweiden hinunter zur Alp Loriaz führt. Doch nur den Anschluss dazu von hier aus den Steinen zu finden, ist fast Pfadfindersache. Wir befinden uns halt auf französischem Wanderweggebiet und in dieser Beziehung werden wir in der Schweiz schon richtig verwöhnt.

Margrit erwartet uns auf der Alp Loriaz

Unterwegs tönt immer wieder Knud’s Handy. Wir haben jedoch mit unserem Abstieg genug zu tun, da muss halt jemand Geduld haben, bis zur nächsten Verschnaufpause. Mit dem Anschluss auf die Alpweiden, hat sich auch die Sonne wieder eingestellt und die Alp Loriaz wartet sogar mit einem Restauräntchen für unsere Verschnaufpause auf. Noch jemand anders wartet. Margrit ist schon vor zwei Stunden eingetroffen und konnte sich bis jetzt noch keine Ruhe gönnen in der Ungewissheit, ob wir uns etwa verpasst haben könnten. Sie hat im Belle Vue alle beruhigt und ausgekundschaftet, was es zum Essen gibt und weiss sogar, dass eine Gruppe von Dänen auch dort logiert. Dann hat sie in zwei Stunden (mit leeren Rucksack) die Alp erklommen und den Weg rekognosziert. Sie probierte Knud zu erreichen, der aber eben keine Gelegenheit hatte, das Telefonat anzunehmen. Erst als die vier Burgunderinnen eintrafen, wurde Margrit von denen beruhigt. Schneller als sie hätten wir auf keinen Fall sein können! Ihre Reise ist hier beendet. Sie begannen mit unserer morgigen Tour und sie haben für den Col de Balme den Sessellift genommen, wie wir dies in Abänderung des gedruckten Programms nun auch beabsichtigen. Dass es hier auf dieser Alp so originelle Unterkünfte gibt, wussten sie von ihrem Vater, der ihnen auch diese Tour schmackhaft gemacht hat.

Touristenunterkünfte auf der Alp Loriaz

Nachdem wir uns mit Kaffee gestärkt haben, übernimmt Margrit nun die Führung in die weitere Tiefe. Sie will unbedingt noch ihren leer heraufgeschleppten Rucksack mit Teilen aus Knud’s oder Hansens Gepäck auffüllen. Dieweil entschwinden Lykke-Lise und ich bei gutem Blahblah unten beim Kreuz brav hinter Klaus dem breitern Weg entlang. Komisch, dass die andern so lange nicht aufschliessen. Wir haben keine Abzweigung gesehen und Esti hat mir heute morgen noch diesen Weg auf der Karte gezeigt, den wir nehmen werden. Das wäre der Fahrweg, auf dem wir nach Vallorcine gelangen. Ein Funk mit dem Handy wäre jetzt nützlich, aber wie könnte es anders sein – kein Empfang! Ich gehe nochmals zurück bis zum Kreuz, wo ich auch prompt die Abzweigung entdecke. Klaus hat inzwischen ausgekundschaftet, dass von dort unten, wo mein Rucksack ist, ein Trampelpfad quer hinüber wohl auf den andern Weg stossen muss.
Vielleicht eine Viertelstunde später als die Andern haben wir nun auch den richtigen Pfad unter den Füssen. Bis zur ersten Abzweigung, die uns irritiert. Der eine Weg führt nach Vallorcine, bergwärts, der andere nach les Granges. Auf der Karte finde ich nirgends les Granges. Doch da kommt einer mit dem Mountainbike. Zum Hotel Belle Vue in Vallorcine geht’s hier lang, Richtung les Granges und den vier Wanderern ist er vor fünf Minuten begegnet. Also geht’s weiter mit strammen Schritten, die im letzten Moment eine Schlange aufschrecken, die wohl am Wegrand die letzte Wärme des Tages genossen hat. Klaus wäre fast auf sie gestanden und ich sehe sie gerade noch zwischen seinen Stöcken durchschlängeln. Der Anblick ihres schwarzen Schachbrettmusters auf dem etwa halbmeter langen Rücken verhilft mir zu einem Adrenalinschub. Sie ist zwar sonst braun und ich dachte Kreuzottern seien grau/schwarz.
Wieder stehen wir ratlos vor einem nicht deutbaren Wegweiser und wiederum steht wie gerufen ein Engel da, der uns in die richtige Richtung weist. Die beiden einzigen Menschen, denen wir auf unserem Weg begegnet sind, waren zur richtigen Zeit am genau richtigen Ort.
So trudeln auch wir etwa fünf Minuten nach den Andern im Belle Vue ein.
Wie freut man sich nach so einem Tag auf ein feines Nachtessen. Im familiären Esszimmer ist nun doch für 14 Personen gedeckt. 7 für uns und an zwei andern Tischen für drei und vier Personen. Auf allen Tischen steht ein Wein und Wasser in einer Karaffe bereit. So hatte die Wirtin also doch noch sieben weitere Gäste und damit ihr Hotel wahrscheinlich ziemlich voll.
Zuerst gibt’s einen Salat mit einem Crevettencocktail, dann folgt eine Lachslasagne. Um den Magen zu schliessen typisch französisch ein Stück Käse. Damit ist aber noch nicht fertig. Es folgt noch ein Himbeerkuchen und Kaffee. Da wäre aber ein Apricotin doch gerade noch das Tüpfelchen auf dem i. Aber hier wehrt die Wirtin ab. Sie dürfe keinen Alkohol ausschenken. Komisch, und der Wein zum Essen? Das ist nicht so hochprozentig und ausserdem ist der Wein und der Kaffee im Halbpension-Preis inbegriffen. Na, dann sind wir ja wieder mal mehr als zufrieden.

Freitag, 6. August

Zum Zmorgen werden wir heute wieder verwöhnt. Bananen und Aprikosen tun der Muskulatur gut. Eier kann man selber kochen. Da muss man nur berücksichtigen, dass man auf 1200 Meter ist, und ein drei-Minuten-Ei seine sechs Minuten braucht, bis es gut ist, vorausgesetzt man legt es erst ins Wasser, wenn dieses kocht.
Laut Marschtabelle müssten wir heute eigentlich von hier aus den Aufstieg zum Col de Balme in Angriff nehmen, aber wir haben gesehen, dass die Möglichkeit besteht, den letzten Tag durch eine Abkürzung zu versüssen. Wir fahren also zuerst eine Station mit der Bahn, die nach Chamonix fährt. Auf dieser kurzen Strecke ist es uns nicht möglich bis zum Kondukteur durchzudringen, den man geradewegs kontaktieren sollte, wenn man am geschlossenen Bahnhof eben kein Billet lösen konnte. So steht es auf einer Infotafel und Esthi behält mich scharf im Auge, dass ich nicht etwa den Führerstand überfalle, dort wo die beiden Verantwortlichen ein gutes Blahblah führen, nur um zu sagen, dass wir noch kein Billet hätten. Sie hat es mir noch nicht vergessen, dass sie wegen meiner Ehrlichkeit einmal im Zug doch noch ein Billet zahlen musste, obwohl der Kondi eigentlich gar keins von ihr gefordert hatte. 
Nach einer viertelstündigen kleinen Tour in der Morgensonne dem Bach entlang bis Le Tour und wir sind an der Talstation des Sessellifts, der zu Winterzeiten ein sehr schönes Skigebiet erschliesst. So entschweben wir nun in wolkige Höhen. Mal sieht man weit hinunter ins Tal, manchmal nur knapp zum nachfolgenden Sessel. Col de Balme, 2204 müM, soll einer sagen, das hätten wir nicht gut gemacht, die Steigung von 944 Höhenmetern so komfortabel zu nehmen. So reicht es uns ja sogar eventuell für einen früheren Zug nach Hause.
Im Hôtel Suisse dort oben direkt auf dem Sattel, hart auf der Grenze Schweiz/Frankreich, möchte uns Esti zuerst zu einem Kaffee einladen. Das Aufsuchen eines stillen Örtchens ist auch immer gut, ehe man so richtig loslegt. Auf dieser Höhe sowieso, wo keine Bäume mehr wachsen und nirgends ein schützendes Gebüsch zu finden ist. Den Schlüssel dazu muss man beim Personal verlangen. Zum Glück hab ich diesmal in meinem Bauchkiosk ein Papiertaschentuch und nicht nur einen Plastiksack wie damals in Australien! So kann ich die Nachfolgenden vorwarnen und sie bekommen gnädigst eine Rolle, die sie aber nach abgewickeltem Geschäft bitte wieder zurückbringen sollen. Nachdem wir nun für Kaffee, Verveinetee und Ovomaltine die Gäste von Hans waren, sind bald alle startklar und es kann losgehen. Die ersten Kilometer sei alles ziemlich eben, behauptet Esti und ich schnalle meine Stöcke deswegen mal auf den Rucksack. Ziemlich bald spüre ich aber den Unterschied, habe ich mich doch die ganzen fünf Tage an diese Unterstützung gewöhnt. Ich hätte selber nicht geglaubt, wie viel Gewicht man auf diese Stöcke abgibt, vor allem wenn man einen schweren Rucksack am Buckel trägt, selbst wenn es fast „nur geradeaus“ geht.
Da wir immer schön auf über 2000 Metern bleiben, liegt bald das Trienttal tief unter uns. Noch immer streichen Wolkenfetzen über Berge und Täler. Manchmal lassen sie die Sicht frei auf unser Ziel und zugleich auch den Ausgangspunkt unserer Tour, dem Col de la Forclaz. Dann umrunden wir die felsige Nase des Trône du Berger und vor uns breitet sich die grandiose Sicht auf den Trientgletscher aus. Während unserer Mittagsrast kämpfen die Wolken noch lange um die Herrschaft über den Grat, aber schlussendlich siegt die Sonne und man kann den Gletscher in seinem ganzen Ausmass bis zur Krete bewundern. Natürlich ist das auch nur wieder relativ. Der Trientgletscher ist eigentlich nur ein kleines Ausläuferchen von der grossen Gletschermasse die das ganze Mont Blanc Massiv überzieht und ausfüllt.
Noch immer geht’s auf unserem ‚Geradeausweg’ über Stock und Stein ziemlich bergauf und schon wird die Sicht frei auf den Nachbargletscher, den Glacier des Grandes, der sich auch schon weit zurückgezogen hat und nur ein weites Tal mit einer grossen Seitenmoräne hinterlassen hat. Bis zu uns hinauf hört man das Tosen der Gletscherbäche.
Endlich ist der höchste Punkt überwunden und abwärts geht’s jetzt über Stock und Stein, manchmal für besseren  Halt mit Ketten gesichert, zuerst an einem Alp-Restauräntchen vorbei. Dann kommt die Passage des Grands. Fast komfortabel breit ist der Weg steil in ein Felsband gehauen. Vielschichtig wie geschnittener Blätterteig sieht dieses Band von der einen Seite aus. Wendet das Zickzack-Weglein, welches uns unten weiterführt um 180°, sieht man zurück auf das Felsband wie auf eine Grosse Mauer, welche aussieht, als ob sie mit Grünzeug bepflanzt sei. Immer näher kommen wir dem Tosen des Bachs aus der Tiefe.
Um zur Buvette du Glacier du Trient zu kommen, wählen wir den schattigen Waldweg, denn es ist inzwischen doch recht warm geworden. Ein Kaffee für Esti wartet dort unten.
Oder doch nicht? Sie inspiziert wieder mal erst den Fahrplan und wir beschliessen, dass wir die restliche Stunde nun der Biss entlang weiter wandern wollen. So sollte es uns bequem auf ein früheres Postauto reichen. Das milchige, eiskalte Gletscherwasser begleitet uns nun auf der rechten Seite in seinem Kanal auf den letzten 4 Kilometern unserer Tour. Diesmal geht es wirklich eben geradeaus mit einem Gefälle von 1,4%. Ein idealer Wanderweg für Familien. Noch einmal öffnet sich der Blick hinauf zum Col de Balme, wo wir heute Morgen gestartet sind. Und noch eine letzte Gelegenheit für ein erfrischendes Fussbad in der Bisse.
Eingedeckt mit vier verschiedenen Sorten frischen Walliser Aprikosen vom Händler, der immer noch hier seine Geschäfte macht, warten wir wieder aufs Postauto auf dem Col de la Forclaz. Und warten. Bei genauer Inspektion des Fahrplans entdeckt man dann auch diese winzige, zusätzliche Zahl, welche einen darüber aufklärt, dass dieser Kurs erst ab dem 15. August verkehrt. Wenn man wüsste, ob man in der andern Richtung in Le Châtelard auch Anschluss auf einen Zug hat, könnte es vielleicht immer noch für einen früheren Zug reichen. Der Kurs, der in dieser Richtung schon heute verkehrt, kommt in einer Viertelstunde. Wir müssten dann vielleicht einen Aufpreis auf unser bereits gelöstes Billet bezahlen.
Es gibt einen Anschluss und für das Postauto gilt unser Fahrschein auch in dieser Richtung. Nur sollten sich die Fahrgäste, die in Trient zusteigen, etwas beeilen. Mit ihrem Hin und Her bekommen wir noch mehr Verspätung. Doch Gott sei Dank gibt’s Handy oder Funk. Der Chauffeur meldet Passagiere nach Chamonix und Martigny an und beide Züge warten nur noch auf uns. So wird nun doch eine Panorama-Zahnrad-Bahnfahrt auch für Esti Wirklichkeit und unser Billet ist erst noch ohne Zuschlag gültig. Der Anschluss unten in Martigny ist auch gewährleistet und eigentlich sollte es uns jetzt doch eine Stunde früher reichen. Sollte – wir meinen, am Lautsprecher gehört zu haben, dass der Zug nach Biel auf Gleis 1 fährt. Doch Gleis 1 wird umgebaut und bis wir wieder auf Perron 6 zurückgerannt sind, hören wir den um eine Stunde früheren Zug davon donnern.
So bleibt also unsere Heimkehr programmgemäss, wie vorausgeplant. René wird uns abholen. Für mich ist jetzt das Heimkommen anders als all die vielen Male, seit ich im Jahr 1995 das erste Mal mit Hans auf eine Sommerwanderung gegangen bin. Ich werde daheim erwartet und ich kann jemandem unsere Abenteuer erzählen. Eigentlich muss ich jetzt zur Kompensation oder Verarbeitung keinen Bericht mehr schreiben. Das habe ich heute Morgen zu Hans gesagt. Jedoch die Enttäuschung, die ich in seinen Augen gelesen habe, konnte ich nicht aushalten, darum habe ich mich daheim wieder hingesetzt und die Tour nochmals Revue passieren lassen. Zugegeben, es macht mir ja selber auch Spass. Knud hat mir seine Fotos auch noch beigesteuert und ich hoffe, dass damit unsere Trienttour 2004 bei Allen in farbiger Erinnerung bleibt.