Sommerwanderung 1999

Freitag, 23. Juli 1999

Treffpunkt und Ausgangsort für unsere Sommerwanderung ist dieses Jahr Maloja. Um meinen ersten Muskelkater hinter mich zu bringen, habe ich schon seit Montag zusammen mit meinen Ski-Fans einmal mehr die Landschaft Davos unsicher gemacht. Den Handkoffer mit allen Sachensächeli, welche nicht mit auf die Wanderung kommen, hat Therese mit heimgenommen. Wie ich meine, habe ich nur das Nötigste eingepackt. Sogar bei den T-Shirts gab es Gewichtsdifferenzen, so dass ich auch hier das leichtere bereit gemacht habe. Dieses habe ich nun noch gestern durch eine neue Odlo-Bluse ersetzt. Sie ist sehr leicht und hat den Vorteil, dass man die Nässe vom Schwitzen nicht gut spürt. Etwa nach dem Prinzip der Pampers. Wäscht man sie am Abend aus, sei sie am Morgen garantiert trocken. Auch dass sie mit 60 Grad gewaschen werden kann und man so auch bestimmt die unangenehmen Schweissgerüche herausbekommt, hat mich überzeugt und um 90 Franken erleichtert. Auch ein Paar Sandalen aus ganz leichtem Material, aber dennoch guter Isolation für die manchmal recht kalten Hüttenböden habe ich erstanden und trotzdem hat mein Rucksack die Schallgrenze von 10 kg bestimmt überschritten. Allein schon die Esswaren und die gefüllte Feldflasche schlagen zu Buch. Auch für den Buschauffeur in St. Moritz scheint mein Bagage zu monströs und er befiehlt mir, das Ungetüm im Packraum zu verstauen. Na ja, wenn er dann in Maloja extra deswegen aussteigen will… Darauf kommt bald ein Berg Gepäck für eine Gruppe, die nach Soglio will. Die Hälfte davon muss auf dem Postplatz in Maloja ausgeräumt werden, bis man zu dem Meinigen vordringen kann. Eine andere Wandersfrau mit einem ähnlichen Pack ist auch dem Postauto entstiegen und strebt gleich mir dem Sporthotel zu. An der Rezeption stellt sich heraus, dass auch sie zu der Gruppe aus Basel gehört, von welcher bis jetzt fünf Personen eingetroffen sind. Es ist Rosmarie aus Zürich, eine Freundin von Regula. Da die vorher Eingetroffenen aber noch auf einem Spaziergang sind, stellen wir unsere Rucksäcke vorerst in das Zimmer, von welchem wir den Schlüssel erhalten haben und sehen uns noch etwas in der Gegend um. Gut zu wissen, um wieviel Uhr das Lädeli gerade neben dem Hotel öffnet, um frisches Brot einzukaufen. Auch um einen Blick vom grossen Felsen hinunterzuwerfen, wo sich die Malojastrasse mit ihren Serpentinen die Abschlussbarriere des Bergells hinaufwindet, steht unser Sinn. Wendet man sich hier etwas mehr südöstlich, wandert der Blick weniger in die Tiefe, als eben ziemlich in die Höhe, bis zu einem Schneefeld und darüber zum Sattel des Passo del Muretto, welchen wir morgen bezwingen wollen. 757 Höhenmeter sind zu überwinden. Plaudernd eine neue Kameradin kennenlernend, erreichen wir nach einem erweiterten Spaziergang den Friedhof. Ein kleiner Bergfriedhof. Mein erster Blick fällt auf eine Grabinschrift: Giovanni Segantini. Auf meine Frage zu Rosmarie ob dies wohl der Segantini sei, antwortet eine Frau, die zusammen mit einem Mann am Grab stehen mit: „Jaja!“ Es sind Bernadette und Matthias. Ich lernte diese Beiden auf einer Winter-Wanderung mit Dieter kennen. Einige haben die Gelegenheit benutzt, um schon in St. Moritz das Segantini-Museum und hier sein Atelier zu besuchen. Ich freue mich jetzt mehr auf einen heissen Tee, denn der Wind weht noch recht kühl vom See her. Schönes Wetter ist jedoch angesagt für die nächsten Tage. Während unserem Spaziergang sind nun alle von der Gruppe eingetroffen. Vreni Schnebli ist auch mit von der Partie und wir teilen uns zusammen ein Zimmer. Dafür fehlen Dieter und Esther. Und ich dachte schon, ich könne mich dann bei steilen Aufstiegen ihrem ausgeglichenen Schritt anheften.
Beim Nachtessen sind wir nun zehn Wanders-Frauen und zwei –Männer rund um den Tisch versammelt. Es werden Erinnerungen von früheren Wanderungen aufgefrischt, gewerweisst, wievielmal wohl dieses Jahr Stocki aufgetischt wird und genaue Anleitungen zur richtigen Duschebenützung durchgegeben, auf dass auch noch die Letztankommenden genügend Warmwasser zur Verfügung hätten.
Bald schlummere ich unter Segantini’s Bild ‚Auf dem Balkon‘ erwartungsvoll dem ersten Tag unserer Tour entgegen. Das Gebimmel von vielen Glöcklein tönt zum offenen Fenster herein. Noch ist es Nacht und der Mond versilbert die Wolkenränder am Himmel. Zwar nicht der Geissenpeter, aber eine Herde Schafe machen sich auf den Weg zur Weide. Der Klang dringt wie eine geheimnisvolle Musik in meinen Halbschlaf uns ich deute es als gutes Omen oder eine Art Alpsegen zum Geleit auf unsere Sommerwanderung. 

Samstag, 24. Juli 1999

Nebelfetzen hängen immer noch über dem See und in verschiedenen Seitentälern des Piz Lunghin. Aber der blaue Engadinerhimmel mit seiner Sonne ist auf dem Vormarsch und gutes einschmieren mit Sonnencreme ist ratsam. Je zwei Äpfel und Bananen aus dem Lädeli ergänzen meine Rückenlast um ein weiteres Pfund und los kann‘s gehen.
Durch ein lauschiges Töbeli, in welchem die Vögel in den neuen Morgen jubilieren, erreichen wir bald den spiegelglatten Lagh da Cavloc. Automatisch sind die Vordersten dem Weg auf der linken Seite, welche noch etwas im Schatten liegt, gefolgt. Esti, eine passionierte OL-Fanin (?) macht uns die rechte Seite im Sonnenschein gluschtig, da die Wege ja auf der andern Seite des Sees sowieso wieder zusammentreffen.

Lagh da Cavloc

Die Füsse im glasklaren Wasser abkühlend geniessen wir schon den ersten Stundenhalt auf der Alp da Cavloc. Etwas weiter hinten im Val da l’Orz tönt uns Lachen und Musik entgegen. Ein Zeltlager von Jugendlichen. Die Gitarrenmusik ist live! Mit dem Überqueren eines kriminellen Brückleins über die oder den Orlegna scheinen wir der Zivilisation entronnen und der Aufstieg in eine von Steinschlag bedrohte Felswüste beginnt.

Füsse baden und kriminelle Brücklein
Füsse baden und kriminelle Brücklein

Steinmännchen zeigen uns den Weg durchs Trümmerfeld. Eine kleine Rast für die einen hie, die andern eher dort unter dem Schutz eines riesigen Felsbrockens, bevor das letzte Steilstück von 180 Metern in Angriff genommen wird. Kleine Anemonen blühen hier überall. Je höher hinauf man kommt, je röter werden deren Blütenblätter. Ein Vergleich mit meinem vor Anstrengung auch immer röter werdenden Kopf kann durchaus standhalten. Aber endlich – ganz stolz, oben zu sein. Die physische Anstrengung ausgehalten zu haben. Den Berg und auch ein bisschen sich selber bezwungen zu haben.
Der Pass bildet auch die Grenze. Der Grenzstein Nr. 1 auf 2562m schaut zurück in die Schweiz und auf die andere Seite nach Italien. Die imaginäre Linie, welche seine Flanken quert verläuft vom Pizzo del Muretto herunter, auf der andern Seite die steilen, mit feiner weisser Maserierung durchzogenen dunklen Wände hinauf bis zum Gipfel des Monte del Forno auf 3214 Meter. Ganz oben kleben Reste eines Gletschers. Wie lange halten sie sich wohl noch dort?

auf der Italienischen Seite

Im Gegensatz zu der Schweizerseite ist der Weg in Richtung Val Malenco relativ gut ausgebaut. Ist es wohl, um die Hütte bei Punkt 2575 (ein Grenzposten?) besser oder eventuell zu Pferd zu erreichen? Uns und unsern Knien kann es ja recht sein. Bald empfangen uns die Alpweiden mit Alpenastern in ihrer Blumenpracht. Weidendes Vieh stellt sich uns in den Weg und wer nicht genügend Abstand einhält, fasst einen veritabeln Backenstreich von einem wehenden Kuhschwanz. Weiter unten am Weg, wie als Anschauungsmaterial ausgestellt, ein Gerippe, abgenagt von Geiern und Käfern. Vorderbeine und Kopf fehlen. Als Laie kann man nicht feststellen, ob es nun mal ein Rind war, oder ein prächtiger Steinbock oder Hirsch. Möglich, dass auch eine Lawine sein Schicksal besiegelt hat und seine Überreste aus dem schmelzenden weissen Grab freigegeben wurden. So wie wir vor drei Tagen im Susascatal vor den Resten eines riesigen Lawinenkegels standen. Der Bach hatte sich ein Loch gebohrt und floss in einem Tunnel jetzt im Juli noch immer unter einer etwa fünf Meter hohen Schicht aus Schnee, Holz, Tannästen und Steinen hindurch. In der Luft lag ein Hauch von Verwesung. Auch dort fanden wir das Gerippe eines Wildtiers.
Durch lichten Lärchenwald kommen wir bald der Zivilisation wieder näher. Wanderer, Bauern beim Heuen, und schon winken die Sonnenschirme eines Restaurants von Chiareggio. Durst hat’s gegeben und glücklich, mit mehr oder weniger heilen Knien unten angekommen zu sein, spendiert Hans eine Eisteerunde. Freudig überrascht vernehmen wir, dass es bis zum Chalet Tanna del Grillo nur noch zweihundert Meter seien. Dort hat man für uns die Mansarde reserviert. Schöne Zimmer überlässt man lieber den Dauergästen. Ein Zweier- und ein Viererzimmer unter der Dachschräge, noch halb im Rohbau und für die restlichen Sechs sind einfach im hinteren Winkel des Estrichs, wo Reserve-Klappbetten und Wolldecken und anderer Kram stapeln, noch irgendwie drei Kajüttenbetten hineingepfercht worden. Die zweite Hälfte des Estrichs ist für das Personal reserviert, diskret mit einem Vorhang abgetrennt. Duschen kann man im ersten Stock, zwar zum Ärger einer Pensionärin im ‚Privat‘-Teil. Aber Warmwasser ist für alle genug da. Die Dusche in der Mansarde ist noch im Entstehen begriffen. Wasseranschlüsse sind vorhanden und auch ein WC ist betriebsbereit. Nur noch nicht angeschraubt, was einem beim unvorsichtigen Hinsetzen eine Schrecksekunde beschert. Und für das wollen sie 70’000 Lire! Das können die nicht machen, das werden wir nicht akzeptieren!
Aber zuerst wollen wir uns mal in der näheren Umgebung umsehen. Bis zum Nachtessen reicht es noch, die zweihundert Meter bis ins Dorf unter die Füsse zu nehmen. Mit den leichten Sandalen geht das gut. Informationen sammeln, ob und wo man morgen Brot und Obst kaufen kann. Einen Blick in die kleine Kirche werfen. Wie in den katholischen Kirchen üblich, brennen auch hier verschiedene Kerzen, die man in Gedenken an irgend jemanden anzünden kann. Ich muss zweimal hinschauen, um es zu glauben: sie sind elektrisch! Für ein Entgelt kann man eine etwa 20 cm lange Kunststoffkerze aus dem Fach nehmen und in einen noch freien Kontakt stecken – Fertig ! Wer bestimmt wohl, wann sie ‚heruntergebrannt‘ ist?

ün pö de tütt

Hungrig setzten wir uns an den langen Tisch in der gemütlichen Wirtsstube. Von den Wänden herunter wird man von diversen Jagdtrophäen beäugt. Wildschwein, Gemse, Hirsch und Steinbock. Mit Notizblock bewaffnet zählt uns die Serviertochter die zur Auswahl stehenden Primi auf: Gemüsecremesuppe, Teigwaren mit Pesto, Teigwaren mit Pomodori, Pizzocheri, Risotto….. Dann kommen mal drei Schüsseln mit Salat und drei Schüsseln mit gekochtem, kaltem Gemüse, zu welchem man die Salatsauce auch selber zubereiten kann. Dann die Bestellung per i secondi: bistecchi, cervo und sonstige Kapriolen, welche wir nicht verstehen. „Was ist das?“ Als Antwort deutet sie mit ihrem Bleistift auf die verschiedenen Tiere an der Wand. Irgend jemand hat aber richtig verstanden, dass das eine Rehrücken ist, was zur Auswahl steht, und unisono schliessen sich alle dieser Bestellung an. Er schmeckt ausgezeichnet, mit verschiedenen Gemüsen dazu. Zum Dessert stehen neben Käse, Gelati und Apfelkuchen noch andere Dinge zur Auswahl. Man versteht zwar nicht alles, aber tönen tut’s gut. Hinterher noch einen Espresso und niemand mehr kann ‚pap‘ sagen. Matthias ruft nach einem Grappa und fällt fast in Ohnmacht, als ihm ein Cüpli-Glas voll serviert wird. Die ganze Runde kann am Schluss bestätigen, dass es nicht einer von der schlechtesten Sorte ist. Dies alles, inklusive 2 Liter Wein und andere Getränke sind im Preis inbegriffen und niemand will mehr streiten wegen dem Preis. Da nimmt man nackte Glühbirnen und lose WC-Schüsseln noch gerne in Kauf.

Sonntag, 25. Juli 1999

Ein strahlender Morgen empfängt uns, mehr oder weniger ausgeschlafen, je nach erwischter Hängematte. Die ersten entrinnen mit knapper Not dem Einkaufsrausch. In Chiareggio ist Markt! Die Stände sind schon bereit und die Bühne für Musik, Festansprachen und Tanz gekehrt. Aber in unsern Rucksäcken hat’s wirklich nur Platz für frisches Brot, Obst, Käse oder von dem feinen Schinken. Das Lädeli, wo es „ün pö de tütt“ gibt, sehen wir uns vielleicht ein andermal näher an. Verkehrspolizisten weisen die herannahende Blechlawine ein und wir müssen noch gut einen Kilometer auf dieser Strasse marschieren! Fragt man Einheimische, wo der Einstieg ist, um auf die Alpe Senevedo zu kommen, zucken diese nur mit den Schultern. Sie kennen den Weg nur mit der ‚màcchina‘. Aber dank unsern Kartenlesern peilen wir diesen schmalen Waldweg zielsicher an und machen uns guten Mutes auf diese heute ‚ganz leichte Tour‘ von nur etwa drei Stunden. Eine kleine Waldlichtung löst das relativ steile Aufstiegsstück ab. Eine Reihe von zwölf bunten Sonnenhüten bewegt sich durch Erlengebüsch und mannshohe Weidenröschen. Schmatzender Boden fordert Aufmerksamkeit, wohin der Fuss tritt. Dann wieder Weg aus einem weichen Tannennadelbett im duftenden Föhrenwald.

Valmalenco

Und schon öffnet sich die Welt auf der Alp mit Blick über das ganze Val Malenco. Der Monte Disgrazia mit seinen Gletschern im Rücken, den Monte Motta  mit seinen hässlichen Seilbahn-Endmasten geradeaus und die aus Gwäggisteinen gebauten Alphütten mit ihren Schieferdächern rundherum. Zeit zum Ausruhen, trinken, essen und geniessen. Den Schmetterlingen nachschauen und den Thymianduft inhalieren, der aus den Matten steigt. Oder auf Fotojagd gehen. Wir haben heute ja soviel Zeit. Von Chiareggio her trägt uns der Wind die festlichen Klänge der Blasmusik und sogar des Gesangs herauf.

Chiareggio im Valmalenco

Auf der Karte führt der bequeme Höhenweg von hier aus eigentlich eher nidsi als obsi, aber die Markierungen sind recht klar und wir folgen ihnen immer weiter hinauf durch einen malerischen Wald, der fast an den Aletschwald erinnert. An einem sumpfigen Wässerchen gibt’s wieder einen Halt, bei dem man feststellen muss, dass man sich nun doch etwas verstiegen hat. Dafür haben wir hier ein so bezauberndes Plätzchen gefunden. Auf der Suche nach einem ‚stillen Örtchen‘ ist nämlich ein geheimnisvoller Moorsee entdeckt worden. Dies allein hat den Abstecher schon gelohnt. Nur Esti muss büssen. Ihr Rücken macht ihr zu schaffen. Hat gestern ihre Bandscheibe noch gute Miene zum bösen Spiel gemacht, heute streikt sie. Schon auf der Alp vorhin haben wir einen Teil ihres Rucksackinhalts verteilt. Jetzt macht Matthias ein Ränzel-Multipack um Esti zu entlasten.
Auf der Alpe Entopa stehen Töff und Autos. Ein Fahrweg führt hier herauf. Die Höhe von 1917 wäre in etwa diejenige unseres Ziels im Rifugio Palù, aber durch diese felsigen Schratten führt kein Pfad quer hinüber. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Prati della Costa auf 1620 abzusteigen, um dann über etwas mehr als einem Kilometer die 300 Höhenmeter wieder zu erklimmen.
Hans, Lydia, Margrit und Esti wollen lieber schweben. Eine monströse Bahn führt nämlich bis zum Lago Palù. Irgend eine barmherzige Seele nimmt sie ein Stück weit mit. Mit einem Taxi gelangen sie dann an den Schiefer-Steinbrüchen vorbei nach Chiesa, zur Talstation … und machen trotz allem Zweite. Die Badehosen unter den Arm geklemmt gehen wir ihnen entgegen. Unser Vorsprung beträgt allerdings nur etwa 10 Minuten. Aber Esti fehlt. Ihre Diskushernie hat sie zum Aussteigen gezwungen. Hoffentlich kommt sie gut nach Hause! Um Dusche und Warmwasser zu sparen, wird im klaren See gebadet. Die vielen einheimischen Sonntagsausflügler räumen langsam das Feld. Denen ist es zu kalt, aber die wenigsten von ihnen haben wohl im Schweisse ihres Angesichts 10 und mehr Kilogramm heraufgebuckelt. Sie eilen, um auf die letzte Bahn zu kommen.

Im Rifugio haben wir Kantonnement bezogen. Solide Kajütenbetten sogar mit Leintüchern. Vor dem Nachtessen können wir uns vor dem Haus nach dem kalten Bad mit einer ‚brodo‘ oder ‚infusione‘ aufwärmen, während unter dem Vordach die Tochter die Hotelwäsche bügelt, ausgerüstet mit einer hölzernen Dampfstation! Die Herberge ist ein Familienbetrieb wo man freundlich aufgenommen wird. Der Hund, über den man steigen muss und das Pferd im Stall, welches einem wiehernd empfangen hat, gehören ebenso zur Familie. Wenn das Essen bereit ist, ruft einem der Chef persönlich in die gut geheizte Stube zu Tisch. Und wieder können wir zwischen drei verschiedenen Primi wählen.

Montag, 26. Juli 1999

Die glatte Oberfläche des Sees spiegelt einen blauen Morgenhimmel wider. Als erstes wird gerade der Aufstieg Richtung Bocchel de Torno in Angriff genommen. Immer steiler geht’s bergan. Der Boden ist ziemlich lebendig und man muss aufpassen, dass man keine Steine löst, welche die Nachkommenden gefährden. Zuoberst greift Matthias kraftvoll zu, um einem über einen letzten hohen Felsbrocken zu hieven.

Morgenaussicht

Beim ersten Stundenhalt wird die wunderbare Aussicht ins Val Malenco nochmals genossen und Hans will bestätigt haben, dass sein Handy von hier aus auch funktioniert. Von nun an geht’s heute nur noch abwärts. Zuerst über eine Weide mit Arnika und Männertreu übersät, später über ausgefahrene Skipisten, bis uns ein gut ausgebauter, weicher Waldweg in ein malerisches Tal führt. Bald führt uns der Pfad wieder an hohen Felswänden vorbei zum Eingang einer engen Schlucht. So felsig und eng, dass gerade Rosmarie‘s Schuh in einer Felsspalte stecken bleibt und er mit vereinten Kräften (was wären wir ohne Männer!) daraus befreit werden muss. Ganz sanft und rund hat hier das Wasser des kleinen Baches, der uns durch die Engnis führt, die Felsen in tausenden von Jahren geschliffen. Geheimnisvoll und entzückend ist es durch diese einsame Welt zu wandern.
Ausgedehnt können wir hoch über der Alpe Foppa Mittagsrast halten. Wir haben uns heute an den Weg gehalten, so dass wir mit nur etwa drei Marschstunden rechnen müssen. Trotzdem können wir schon um drei Uhr von der Staumauer des Lago di Campo Moro aus auf unsrige heutige Etappe zurückblicken. Im Rifugio Campo Moro, welches genau auf 2000 m liegt, lässt sich’s gemütlich sein. Wir haben Hotelzimmer und ich teile mit Vreni ‚un letto matrimoniale‘. Und eigene Dusche! Nur hat sich wahrscheinlich eine Kröte in die Leitung verirrt. Die letzten haben es gerade noch geschafft zu duschen, und dann war‘s es. Hoffentlich hat die Küche vorgesorgt. Ausser uns bewirten sie nämlich noch eine grosse Gruppe Konfirmanden. Jedenfalls putzen wir die Zähne heute mit Mineralwasser.

Dienstag, 27. Juli 1999

Im Frühtau zu Berge wir gehen fallera…. Nebel steigt aus dem Stausee, aber die Sonne drückt schon hie und da durch. Matthias hat sich gestern in die Karte vertieft und den Vorschlag unterbreitet, anstelle der zwei Kilometer dem See entlang auf der Strasse und anschliessend durchs Valle Poschiavina zu nehmen, sei es ungleich reizvoller, über die Alpe Campagneda zum Pass da Cancian zu gelangen. Es wäre dabei die Kleinigkeit von 150 Metern mehr Höhe zu überwinden. Ausserdem komme man da an vielen kleinen Seen vorbei. Da ohnedies schon ein Gewalts-Abstieg von 1400 m bis nach Poschiavo ansteht, entschliessen sich Hans und Margrit ihre Knie zu schonen und heute im Bus möglicherweise weniger strapaziös ans Ziel zu gelangen. Die Frau des Wirt’s hat sich bereit erklärt, sie mit dem Auto bis nach Chiesa oder gar Sondrio zu bringen. Da waren‘s nur noch Neun, die singend das Refugio Richtung SAC-Hütte verlassen. Dort muss ich eine Foto machen von der genialen Wäscheleine, die wie in den italienischen Städtchen über die Gasse, hier einfach wie eine Seilbahn über ein ganzes Tal gespannt wird.

Alpe Campagneda

Nachdem wir ein garstiges Trümmerfeld überquert haben, beginnen schon wieder allenthalben Blumenmatten zu blühen und der Wind trägt uns Herdengleäute zu. Bald liegt die weite, sanfte Alpe Campagneda vor uns, bestossen mit hunderten von Kühen.

Alpe Campagneda

Wahrscheinlich sind sie eben fertig gemolken worden und jetzt treibt sie der Hirte hinauf, Richtung Seen, wo noch jede Menge saftige Weiden warten. Bald sind hinter und vor uns alles Kühe, (alles Chuehfüdli). Gwundrig und doch misstrauisch werden wir beäugt, weil wir uns zum verschnaufen an ‚ihren‘ Weg gesetzt haben.

Alpauftrieb

Variationsreich sind die vielen Seelein, an denen unser Weg vorbei führt und vielfältig die Blumenpracht, die mein Herz erfreut.
„Habt ihr die Gemsen gesehen, dort hoch auf der Krete?“ Jetzt ist natürlich das Glücksgefühl vollkommen. Aber – je höher man ihnen entgegensteigt, je mehr kommen Zweifel ob diesem Wildgetier. Mich dünkt, die einen Gemsen seien weiss und die hellen Glöcklein tönen je länger je mehr von dort herüber. Aber das Glücksgefühl muss uns trotzdem nicht verlassen. Wolkenfenster geben bald den Blick frei Richtung Piz Cambrena und Palü.

Scalino.Gletscher

Eine wunderbare, von Margriten übersäte Bergkuppe mit einem Riesen-Steinmann müssen wir noch erstürmen um auch auf der gegenüberliegenden Seite den riesigen Scalino-Gletscher zu bestaunen, ehe sich die penetrante Nebelwalze aus dem Tal heraufschleicht und den Vorhang zieht. Unten wo die Zungenspitze des Gletschers in einem grossen Lawinenkegel endet, hat sich ein gewaltiger Bach von Schmelzwasser ein Tunnel gegraben und ein tosendes Rauschen dringt zu uns herauf. Der gut markierte Weg führt an einem verzweigten Seelein vorbei über die Seitenmoräne hinunter zu diesem Gletscherbach, der in vielen Armen eine steinige Ebene überspült. Irgendwo dort drüben gehen die Markierungen weiter, aber wie man dorthin kommt, ist unser Problem. Nirgends liegen genügend Steine im idealen Abstand, dass man trockenen Fusses hinüber gelangen könnte. Einen oder zwei Seitenarme schafft man, aber der Hauptstrom ist weiter oben zu tief und wo’s flacher wird zu breit.

im eisigen Gletscherwasser

Liselotte zeigt wie’s geht: Hosenbeine hochgestülpt und die Schuhe an den Bändeln zusammengebunden um den Hals gehängt und hinein ins eisig kalte Nass. 200 Meter vom Gletscher-Ausfluss entfernt! Brrrr! Es gibt nichts anderes für uns, als auch Augen zu und durch! Das heisst, so ganz blindlings geht’s doch nicht. Es reisst und nadelt und sandstrahlt. Ich bin froh um meine Stöcke, die mir etwas Sicherheit verleihen. Krebsrot sind die Füsse aber noch ehe sie wieder trocken sind, sind sie auch schon wieder schön warm und also erfrischt wandern sie weiter über Stock und Stein. Waren die Wiesen vorhin weiss von Margriten, sind sie jetzt von gelben Blumen übersät.  Mitten in der gelben Pracht steht wieder ein Grenzstein, der uns in die Schweiz lässt. Pass da Cancian heisst es hier. Werden wir wohl auf unserer Wanderung auch beobachtet um sicher zu gehen, dass wir weder Schlepper noch Pass- und heimatlose Flüchtlinge sind und die Grenze auch wirklich am rechten Ort überschreiten?

zwischen Himmel und Erde


Noch sind wir ganz altmodisch und überschreiten die Grenze und Pässe zu Fuss. Uns entgegen trippelt und hüpft und prustet die Zukunft. Mit weichen, feinen Schuhen und engen glänzenden Tricots, (gelben und rosaroten) unbequem ihr Bike buckelnd. Betrübt ein kaputtes Lager betrachtend. Unglücklich, dass man nun nicht mehr fahren kann. Dabei nimmt mich nur wunder, wann die denn überhaupt fahren können. Vielleicht hier auf diesem kleinen Wieschen ginge es 10 Meter geradeaus, aber da sind dummerweise wir gerade im Weg. Na ja, wir tragen ja auch freiwillig 10 Kilogramm und mehr am Buckel eine Woche lang mit uns herum. Wie heisst es doch: Jedem Tierchen sein Plaisierchen.
Abwärts geht’s durch Arnika-Wiesen, zum drittenmal mit vereinten Kräften über den brückenlosen Gletscherbach, vorbei an Türkenbund und unerreichbaren Feuerlilien (für ein Foto) hinunter zur Alp Cancian, welche etwa auf Höhe der Waldgrenze liegt. Dort führt uns das erste Brücklein über den Palu Granda. Wir folgen dem Fahrweg durch das Waldgebiet bis hinunter nach Selva.

Selva

Ob sich wohl die beiden dort auf dem Plateau thronenden Kirchlein gegenseitig konkurrenzieren? Diese Hintergründe abzuklären, verschieben wir auf ein andermal. Im Moment sprechen uns die von weit her leuchtend roten Sonnenschirme des dortigen Restaurants mehr an. Ach, wie geniesst man nach einer solchen Wanderung ein kühles Getränk, eine Glace oder Nusstorte. Die Neugierigen bestellen sich den angepriesenen SWOPF und machen die andern glustig mit einem lauwarmen Schoggi-Gugelhöpfchen, gefüllt mit Vanilleglacé. In der Zwischenzeit ist es Liselotte geglückt, das heisslaufende Telefon für einen Moment für sich zu beanspruchen und unserem heutigen Gastwirt des Hotel Alta Villa in Poschiavo anzurufen. Wir seien nun da. Er hat uns nämlich versprochen, uns mit seinem Kleinbus abzuholen, womit wir uns den restlichen Abstieg von 400 Metern ersparen können. Während sich also die Lebensgeister wieder etwas aufrappeln können, beginnt man die nächste Umgebung etwas unter die Lupe zu nehmen. Etwa 100 Meter vom Restaurant entfernt, steht ein Iglu. Eine steinerne Kuppel, wie ein riesiger Pizzaofen. An einem Tisch vor dem Eingang werden einheimische Produkte angeboten. Ich bin gwundrig nur schon wegen dem Iglu. Der Name dieses „Trülli“ fällt zwar in der Runde. Leider verpasse ich es, diesen Namen aufzuschreiben und so fehlt er jetzt in meinem Bericht. Draussen kann man einheimischen Wein und Puschlaver Ring- und Früchtebrot kosten. Das Letztere wäre nun schon was als Zwischenverpflegung. Drinnen im steinernen Gewölbe, welches wahrscheinlich als Keller dient, werden neben Breasola, dem Trockenflesich welchem wir auch im Veltlin begegnet sind, auch eine Art Dauerwürste und die Brote zum Kauf angeboten. So ein Würstchen oder Fleischchen hätte nun ja schon wieder Platz im Rucksack, aber ein Blick aus der Tür hinunter zum Restaurant rettet mich vor diesem unüberlegten Handel. Der Kleinbus ist schon angekommen und wenn ich mitfahren will, muss ich jetzt all die guten Sachen hier fahren lassen. Obwohl wir alle Platz hätten, haben drei von uns immer noch nicht genug und nehmen die letzte Stunde Abstieg nach einem eingehenden Besuch des „Trülli“ tatsächlich noch unter die Füsse.
Es ist noch nicht so lange her, seit Hans und Margrit ‚aussenherum‘ übers Veltlin und Tirano im Hotel Alta Villa eingetroffen sind. Nach einer erfrischenden Dusche reicht die Zeit noch spielend, für eine Ortserkundung, einen staunenden Blick in die Kirche San Vittore Mauro und einen gruseligen in das Beinhaus nebenan, für Einkäufe im Konsum oder Kiosk und Apéro auf der Piazza. Das ganze Städtchen ist wieder renoviert, und kaum jemand sieht ihm noch an, wie hier vor wenigen Jahren der harmlos aussehende Bach gewütet hat.
Der heftig niedergehende Gewitterregen wartet, bis wir alle im Säli des Hotels zur gediegenen Dinner-Runde versammelt sind. Es ist das Abschiedsessen für Bernadette und Matthias. Seine Arbeit ruft. Es ist aber auch das Festessen zum Geburtstag. Langsam sickert nämlich durch, dass Vreni heute den ganzen Tag ganz heimlich Geburtsag hatte.

Mittwoch, 28. Juli 1999

Neblig verhangen präsentiert sich Poschiavo beim ersten Blick aus dem Fenster. Dabei habe ich mich auf das Val de Camp so gefreut. Alle Bekannten, die dieses Tal kennen, haben mir davon vorgeschwärmt. Bernadette und Matthias lassen es sich nicht nehmen, uns soo früh um halb neun bei der Postauto-Abfahrt zu winken.
In Sfazù wartet das bestellte Minibus-Postauto. Noch können wir wählen, bis wo wir mitreiten wollen. Am besten bis an die Sonne. Aber da kann uns der Chauffeur nicht dienen und wir sind einverstanden, dass er uns nach Camp führt. Von dort sind es zum Lagh da Saoseo, dem beschwärmten, nur 20 Minuten durch lichten Wald auf relativ ebenem Pfad. Bis zum entscheidenden Wegweiser.

Saoseosee

Den Saoseosee sehen, heisst ein Ab- und wieder Aufstieg von fast hundert Metern. Ich will es mir nicht nehmen lassen, noch sind wir ja frisch eingelaufen. Hans möchte seinen Knien doch nicht unnötige Abstiege zumuten und entscheidet sich, den Höhenweg bis zum Lagh da Val Viola beizubehalten. Liselotte begleitet ihn. Bald präsentiert sich uns der wunderbare Bergsee mit seinem glasklaren, ruhigen Wasser wie ein riesiger Spiegel. Geheimnisvoll und doch durchschaubar bis zum Grund. Rastplätze mit Bänklein laden zum Verweilen und Träumen ein. Der Abstecher hat sich absolut gelohnt. Langsam beginnt aber auch unser Weg geheimnisvoll zu werden. Nebelfetzen beginnen die Tannenwipfel einzuspinnen, mehr und mehr verschlucken sie die Umgebung und statt zum Lagh da Val Viola zu kommen, stranden wir am Nebelmeer. Wie finden wir nun Hans und Liselotte? Wir rufen einfach mal dem Uhu. Er antwortet sogar! Sie haben den See noch gesehen. Hans hat sogar das Glück gehabt und konnte die kleine Meerjungfrau auf dem Stein fotografieren.

die Nixe am Saoseosee

Die Wirtin hat uns heute morgen erklärt, dass der Weg, den wir über den Pass nehmen wollen, hier bei der neuen Hütte weiter geht. Also gehen wir mal auf die Suche nach diesem Haus. Ein Gebäude finden wir allerdings nirgends, dafür begegnen wir Rosmarie und Lydia, welche den Lagh da Val Viola vom Saoseosee aus von der gegenüberliegenden, steileren Seite her angepeilt haben. Glücklich vereint aber nur, um uns zu verabschieden. Eigentlich wollte Regula heute noch im Rifugio Val Viola übernachten, und morgen den Heimweg durchs Val da Camp zurück unter die Füsse nehmen. Das Wetter hat ihr die Entscheidung etwas leichter gemacht und sie hat sich entschlossen, hier umzukehren. Vreni will sie begleiten. Bereits fallen erste Regentropfen und gönnen uns nicht mal eine kleine Rast um den Motor für den bevorstehenden Aufstieg genügend einzuheizen. Bunte Regenhosen und Pelerinen kommen aus den Tiefen der Rucksäcke zum Vorschein und bald verschwinden die beiden Gruppen in getrennten Richtungen im Nebel. …Da waren’s nur noch sieben!

zwischen Moton und Motin

Ein Aufstieg im Regen ist neu für mich. Was haben wir doch für Wetterglück gehabt seit ich mit auf diesen Wanderungen bin. Einzig einmal dieser Gewitterregen im Val Ferret. Dort hatte ich noch nicht diese Pelerine mit Buckel. Sie ist gross genug um den Esel mit samt seiner Last einzupacken. Nur bei steilem Aufstieg muss man aufpassen, damit man nicht mit den Vorderhufen auf die Zipfel steht. Der Pfad führt uns eine Bergflanke hinan mitten durch eine steile gelbe Blumenmatte. Ein Blick zurück und oh Wunder, der Regen war Sieger über den Nebel. Noch gerade vor der letzten Wegbiegung  können wir ein Auge voll auf den Lagh da Val Viola erhaschen.

die Seen im Val Viola

Hinter der Wegbiegung, zwischen den beiden Gipfeln Moton und Motin beginnt es abzutropfen und beim Grenzstein auf dem Pass kann man sogar sitzend eine Verschnaufpause machen und das Gummizeug versorgen. Rechts in der Senke ein kleiner See, noch auf Schweizer Boden und ein paar Schritte von hier jenseits einer Krete in einer Mulde auf der italienischen Seite ein anderer. Gut die Hälfte seiner auf der Karte eingezeichneten Grösse ist grün und verlandet. Kühe weiden dort auf der Alp, welche sich sanft den drei Seen im Val Viola auf der italienischen Seite zuneigt. Der grösste von ihnen ist der Lago di Val Viola.
Das Rifugio ist nun schon in Griffnähe und man beginnt sich auf einen gemütlichen Nachmittag in einer trauten Berghütte zu freuen. Noch etwas faulenzen, vielleicht lesen oder warum nicht Hornochsen? Spiel und Gesang sind bis jetzt noch nicht so recht zum Zug gekommen, so wie auf früheren Wanderungen. Es gebe dort Polenta, berichtet ein entgegenkommender Wanderer. Noch was, worauf man sich freuen kann.
Braunrot und mit fast wie Schiessscharten anmutenden Fenstern steht unsere heutige Unterkunft bald vor uns. Eine Umzäunung für oder gegen das Vieh muss überklettert werden. Die Herberge eines Mountain Bike Clubs. Auf der Sonnenseite des Hauses verregnete Gartenwirtschaftsbestuhlung. Ein Schild verbietet mitgebrachtes Picknick hier zu verzehren. Hier herrschen also Vorschriften, ist so mein erster Gedanke, während wir über die Schwelle in die gutgeheizte ‚Stube‘ stolpern. Ah ja, die angemeldete Gruppe. Leider sind wir zwei weniger, nicht wie noch gestern gemeldet Neun. In der Stube wechseln wir mal erst die Schuhe. Ausser dass gut geheizt ist, macht sie eigentlich keinen sehr gemütlichen Eindruck. Rechts und links je ein langer Esstisch mit Bierfest-Bänken. An den Wänden Poster mit den hiesigen Vögeln, Wildtieren und geschützten Pflanzen.
Der Wirt kommt herein und putzt noch schnell den Tisch ab. Er sagt aber nichts und macht auch keine Anstalt uns den Schlafraum zu zeigen, dass wir uns installieren könnten. Es sieht aus, als ob die zuständige Person noch gar nicht hier ist. Also warten wir mal. Soweit es die Bequemlichkeit zulässt, wird mal auf der schmalen Holzbank ein Nickerchen gemacht. Eine Bouillon oder eben eine ‚brodo‘ wäre nicht schlecht. Aber es ist niemand zu sehen. Die Küche ist aufgeräumt und von Polenta weit und breit nichts zu sehen.
Zaghaft kommt der Vorschlag: „Was, wenn wir den Rest bis zur Strasse, wo der Bus fährt heute noch unter die Füsse nähmen? Es wären etwa zwölf Kilometer und jetzt ist erst drei Uhr. Hier ist es so ungemütlich!“ Obwohl es draussen wieder regnet, ist nicht eins anderer Meinung und schon sind wir gesattelt startbereit im Gang. Wahrscheinlich hat der Wirt nun von unserem Aufbruch doch etwas mitbekommen und steht unschlüssig im Gang herum. Marie Louise macht ihm klar, dass wir wieder weiterziehen, weil es hier so unfreundlich sei. Was heisst hier unfreundlich? Wir seien die, welche kein Wort gesagt hätten. Ausserdem habe man für zwölf Personen reserviert und jetzt kommen nur sieben. Er habe deswegen eine Gruppe von mehr als zwanzig Leuten abgesagt. Nicht mal etwa eine Flasche Wein hätten wir bestellt. Das WC hätten wir auch benützt etc. Von wegen! Dieses italienische Steh-Kauer-Spritz- und Plumps-Klo! Natürlich musste er für uns etwas vorbereiten und einkaufen. Die zwanzig Franken, welche er von jedem verlangt, geben wir ihm gerade noch gerne, wenn wir nicht hier schlafen müssen.
Wir malen uns aus, welche Schimpftiraden und Verwünschungen uns auf unserm Weg nachgesandt werden. Nicht anzunehmen, dass er unsere Namen weiss. Sonst würde man wahrscheinlich später einen Eintrag im Hüttenbuch über Hans Mory vonwegen Vielweiberei und Zechprellerei finden. Aber wir lassen uns darob nicht erschüttern und geniessen trotz Regen das italienische Val Viola. Zurückblickend hat diese Alp auch einen ganz besonderen Reiz. Es mutet einem fast an wie eine Landschaft im hohen Norden. Das sumpfige Grün vor dem Violasee. Wird wohl auch dieser See bald nur noch eine grüne Ebene sein?
Unter einer Tanne finden wir ein halbwegs trockenes Plätzlein für einen Stundenhalt. Der Weg ist inzwischen zum Fahrweg geworden und ab und zu müssen wir einem Auto Platz machen. Da kommt sogar einer mit einer Tessiner Nummer. Den könnten wir doch fragen, wann ein Bus fährt und wir verwerfen alle Hände. Er hält an aber sein Bescheid ist nicht ermutigend. Der letzte ist schon weg. „Könnten Sie dann vielleicht diesen Herrn mitnehmen. Er hat ein bisschen male alla gamba“. Vielleicht kann er dann irgendwie versuchen nach Bormio zu kommen. Er hat nämlich letzte Woche sein Auto dorthin gebracht und ist dann mit dem Bus übers Veltlin nach Maloja gekommen. Wir haben Glück. Hans, Lydia und Margrit haben Platz. Wir werden im Restaurant vorn an der Autostrasse in Arnoga aufeinander warten. Für den Fall, dass alle Stricke reissen sollten, prägen wir uns den Namen des Hotels ein, in welchem Hans zu finden sein wird: das Cima Bianca.
So sind wir jetzt noch vier und nach einer knappen Stunde erreichen wir schon die vielbefahrene Strasse, die von Bormio über den Passo Foscagno nach Livigno führt. Im Restaurant stellen wir fest, dass doch noch ein Bus fahren würde, aber unser Telefon im Hotel kommt einen Moment zu spät. Alle drei sind eingetroffen und haben noch Zimmer erhalten, aber Hans ist schon wieder unterwegs, um uns zu holen. Der nette Autofahrer war ein Bauführer, der von der Arbeit heimkehrte und hat die drei Anhalter bis nach Torripiano mitgenommen. Dort haben sie sich ein Taxi organisiert, welches sie nach Bormio gebracht hat.
Es ist halt eine Passtrasse und hat schon noch einige Kurven, und das ist das, was Rosmarie nicht so liebt. Oder jedenfalls nicht ihr Gleichgewichtsorgan. Bald muss Hans kurz stoppen. Die frische Luft tut gut und bald geht’s weiter. Diesmal schaffen wir‘s bis kurz vor Bormio. Zum Glück hat es hier vor einer Kirche gerade einen günstigen Parkplatz. Die arme Rosmarie. Es scheint, dass wir hier eine Verschnaufpause einlegen müssen und da die Kirche offen ist, strecke ich mal meine Wundernase dort hinein. Sie wird nämlich gerade renoviert. Ein Mann ist gerade dabei eine zugemauerte Pforte, welche einst in die Taufkapelle führte, wieder aufzumeisseln. An den Wänden sind überall verschiedene Fresken wieder hervorgeholt worden. Auf Informationstafeln kann man sich über die Renovierungsarbeiten orientieren. Ein Loch im Boden lässt einem einen Blick in die dunkle Krypta werfen. Liselotte kommt ins Gespräch mit dem Restaurator und er erklärt uns, wie diese Kirche aus dem 9. Jahrhundert im 14. Jahrhundert erweitert worden sei. Es sei eine typische Kirche aus dieser Gegend mit ihrem weitgespannten Eingangsgewölbe, über welchem sich eine weitläufige Empore befindet. Diese sei dannzumal nur den Männern vorbehalten gewesen. Frauen und Kinder durften sich nur auf der unteren Ebene aufhalten. Auf unsere neugierigen Blicke in die beiden Löcher im Boden erklärt er zur vorderen Gruft, dass diese die Grabstätten für die Geistlichen gewesen sei. Im hinteren unterirdischen Hohlraum habe man die Kinder beigesetzt. Das habe man gemacht, damit die Hexen nicht Kinder aus ihren Gräbern herausholen und aus den Kinderleichen Salben und dergleichen herstellen konnten. Erwachsene Gestorbene waren anscheinend für dieses Hexenwerk wertlos. Schaudernd lassen wir den Restaurator wieder seine Arbeit erledigen. Wenn er die in dieser Gegend typischen Malereien auf der Aussenfassade auch noch restaurieren muss, hat er noch eine rechte Arbeit vor sich.

in Bormio

Wir wagen den letzten Anlauf und bringen Rosmarie ziemlich elend bis zum Hotel Cima Bianca, wo sie sich zuerst einmal etwas sammeln muss.  Wir sind hier alle so  freundlich empfangen worden und niemand will mehr daran denken, wo und wie es eigentlich heute Nacht hätte sein sollen. Die Wirtin berät uns, wohin wir zum Essen ausgehen könnten, weil das Cima Bianca ein Garni ist. Es ist inzwischen doch schon spät geworden und ich habe bald Hunger. Ich will ein typisches ‚primo‘ von hier probieren. Ich weiss schon wieder nicht mehr wie sie heissen, diese aufgerollten Schnecken aus Buchweizen-Nudeln und Schinken, gefüllt mit einer Käse-Béchamel-Sauce und im Ofen überbacken. Herrlich. Dann folgt die Polenta, von welcher schon seit Morgen die Sprache war, dazu Kalbspfeffer. Nur dachte ich eigentlich, Pfeffer sei ein Sauerbraten, nicht nur ein gewöhnlicher. Aber er schmeckt ausgezeichnet.

Donnerstag, 29. Juli 1999

Was machen wir heute? Ausser im Winter Top-Skigebiet, ist Bormio eigentlich ein Badekurort mit Thermalbädern. Empfehlenswert seien die Bagni vechhi, wo man in einer alten Grotte baden könne. Rosmarie geht es heute wieder besser und sie möchte Bormio hautnah erleben. Mehr die Läden und die Stadt, vielleicht das moderne Thermalbad. Weil Liselotte und Hans noch etwas besorgen müssen, wollen  Lydia, Margrit, Marie-Louise und ich den Bus nehmen, der uns dann aber nimmt, sogar auf offener Strasse ausserhalb jeder Haltestelle. Wir haben schon gedacht, dass wir es nicht bis zum Busstop schaffen würden, als wir das orange Gefährt kommen sahen und haben alle Hände verworfen, dabei war der Bus erst auf der Herfahrt. So sind wir nun zu einer Ehrenrunde durch das Städtchen gekommen, so quasi eine Sightseeing-Tour.
Hoch oben am Berg, schon im Gebiet des Nationalparks Stilfser Joch steht ein altes Hotel. Die Renovationsarbeiten sind jetzt auch im Hotel im Gang. Bis jetzt sind erst die Bäder erneuert worden. Ausser einem normalen Eintritt ins Bad, könnte man sich auch allerhand andere Wohltaten angedeihen lassen. Kosmetikbehandlung, Fanghi, Massagen, von Reflexzonen über Wuatsu, Shiatsu und weiss der Himmel was noch alles. Wir entscheiden uns nur fürs Thermalwasser und erhalten jedes ein grosses Badetuch und einen Bademantel. Aus einem Gestell kann man sich von einer Auswahl platschnassen, mit Desinfektionsmitteln durchtränkten Schlappen ein Paar aussuchen. Nach der obligatorischen Dusche sind wir schon hinter der Tür, die geheimnisvoll mit ‚Grotto‘ angeschrieben ist, verschwunden. Da befindet man sich wirklich in einem aus dem Fels gehauenen Tunnel. An einem Hakenbrett kann man das Tuch und den Bademantel vorerst aufhängen. Zuerst nun mal in der Sauna aufwärmen. Es ist angenehm warm. In der herausgehauenen halbrunden Höhle hat die von Feuchtigkeit vollgesogene Luft die Temperatur des aus dem Felsen sprudelnden warmen Wassers von etwa 39 °C angenommen. Die beleuchtete Quelle wird in einem kleinen Becken aufgefangen, welches aber durch ein Gitter vom Saunaraum getrennt ist. Rund um die Gewölbewand sind Sitzbänke angebracht, wo man nun die gemütlich erste Schwitzrunde konsumieren kann. Aus zwei kleinen Trögen kann man sich oder den andern mit einer Holzkelle Wasser über den Kopf und Körper rieseln lassen. Hat man genug geschwitzt, kann man sich im Tauchbecken, welches allerdings eiskaltes Wasser beinhaltet, abkühlen. Aber Vorsicht! Für den Fall, dass der Kreislauf nicht mitmacht, sind überall Alarm-Knöpfe angebracht. Man darf auch nie ganz allein die Sauna benutzen. Also für mich passt Lydia auf, denn ich kann der Versuchung für diesen prickelnden Genuss nicht widerstehen. Ganz eintauchen, bis das eiskalte Wasser über dem Kopf zusammenschlägt und schnell wieder raus. Um die Ecke das nächste Planschvergnügen. Vor einer Staumauer im Tunnel drei Tritte und man kann durch eine Höhle schwimmen. Für Gwundernasen ist es spannend, denn man kann von der Staumauer aus nicht sehen, wie weit es geht. Als Höhlenforscher ist es für mich natürlich ein Muss. Aber hinter der Biegung ist schon aus. Eine zweite Staumauer beendet den Forschungsdrang. Tief ist es nicht, man kann schwimmen, aber auch gut waten. Hat man dann genug vom Ur-Höhlen-plantschen, geht man in die komfortableren Becken über. Röhrensprudel oder Wasserfall kann man sich aussuchen oder einfach der Reihe nach probieren. Das Unterwasserlicht gibt den im Verhältnis engen, zum Teil jedoch durchgehenden Räumen eine gewisse Weite. Aber man erkennt auch so flockige Ausfällungen von irgendwelchen Mineralien. Obwohl  an einem Plakat angeschrieben steht, dass dies schwebende Schwefelteilchen seien, habe ich trotzdem etwas Mühe. Nach dem Motto: Augen zu und durch, lasse ich mir das Vergnügen eines entspannenden Quirlbades trotz allem nicht entgehen. Auch noch einen Blick vom warmen Aussenbad hinunter ins Valtellina und dann ist eigentlich die Zeit, welche man im Thermalwasser zubringen sollte auch schon vorbei. Der Bademantel und das Tuch, welches wir immer wieder mitgenommen und irgendwo wieder an einem Haken deponiert haben, sind in der Zwischenzeit auch mehr oder weniger feucht. Eigentlich hätte man dies in der Nähe der Ruhezone deponieren sollen. Ich ziehe mich auf jeden Fall um, denn ich möchte nicht im nassen Badkleid das anschliessende Nickerchen geniessen. Zur Auswahl stehen verschiedene Ruheräume, wo Pritschen mit frischen Tüchern und einer Wolldecke warten. Auch ein Aroma-Zimmer gibt es, wo man von herrlichen Düften umgeben  in blumige Träume versinken könnte.
Um dem aufkommenden Hunger abzuhelfen, habe es etwa eine halbe Stunde von hier ein Restaurant. Da das alte Hotel mit entsprechender Infrastruktur eben wirklich erst am neu auferstehen ist und nur aus einer Baustelle besteht, machen wir uns halt auf den Weg durch einen lichten Wald (mit roten Waldvögelein). Wir treffen zwar nicht das gesuchte, dafür ein paar andere Wirtschaften, aber erst eine Stunde später in Bormio. Endlich sitzen wir zum Aperitif vor einem Grodino, diesem alkoholfreien orangen Bittergetränk. Nicht schlecht. Der gemischte Salat mit Wienrli-Rädchen mutet hingegen eher ungewohnt an. Und nun sind wir an der Reihe, das Städtchen unsicher zu machen. Enge Gässchen, Kirchlein, Fassaden mit Malereien und Blumenschmuck, schöne Portale, Spezereiläden mit ihren Auslagen von getrockneten und eingelegten Pilzen und Teigwaren aller Art…..
Unterwegs hat Rosmarie etwas von einem ihrer Hobbies erzählt. Sie gibt Senioren und Seniorinnen Kurse in Walking. Natürlich muss sie uns darüber das Wichtigste in Kürze erläutern. Nicht nur die richtige Haltung und Atmung ist dabei wichtig, sondern auch wirkungsvolle Dehnungsübungen. Wir probieren das beim Einfahrtstor des Hotels gleich aus. Für Hans scheint das etwas kurios zu sein, und zuhause wird er dann mit einer Foto allen beweisen, dass wir versucht hätten, das Hotelportal zu versetzen.

Muskeltraining

Zum Nachtessen treffen wir uns heute an der Piazza in einem gemütlichen Restaurant. Im Säli verbringen wir unser letztes Beisammensein in diesen Ferien nochmals mit kulinarischen Genüssen. Morgen wollen alle heim. Dabei ist morgen erst Freitag und ich plante eigentlich erst Samstag oder Sonntag wieder daheim zu sein. Wie zum Abschied bringt der Männerchor vor dem Haus im Pavillon ein Platzkonzert dar. Ein feiner Nieselregen vergällt einem aber, allzulange zu verweilen und so trete ich durch die feuchte Dunkelheit meinen Verdauungsspaziergang in Richtung Hotel an.

Freitag, 30. Juli 1999

Es hat mich in der Nacht nicht losgelassen. Der Widerstand, dass ich heute schon heim sollte. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich nun wirklich mit dem zweiten Bus Richtung Tirano fahre und  von dort mit der Berninabahn wieder Richtung heimzu. Zwei gehen schon mit dem ersten Bus in aller Frühe, um in Chur noch Besuche zu machen. Im Gegensatz zu den andern habe ich mein Retourbillet bereits im Sack. Nur nicht von Tirano aus, sondern von Santa Maria im Val Mustair. Das Programm hat es nämlich offen gelassen, die Wanderung nach Bormio in Richtung Stilfserjoch fortzusetzen. Das Fräulein am Bahnschalter hat allerdings nicht gewusst, dass ein Postauto über den Umbrail nur auf vorherige Bestellung fährt. So kam ich zu meinem Billet. Bestimmt gibt es einen Fussweg über diesen Pass. Sogar bei der Informationsstelle des Nationalparks sagten sie mir, ich müsste der Strasse entlang gehen. Aber beim Morgenessen zeigt mir Liselotte eine Karte, wo ein Wanderweg durch das Val Muraunza eingetragen ist. Das Wetter scheint heute auch nicht so übel zu sein. Der Regen von gestern hat sich jedenfalls verzogen. So ist mein Entschluss gefasst: Ich gehe noch nicht heim. Um halb elf sitze ich zusammen mit Liselotte und Hans im Bus Richtung Stilfserjoch. Wegen einer falschen Information am Billetschalter, bin ich wieder mal so ins Rotieren gekommen, dass ich mich nicht mal von jenen verabschiedet habe, welche in einer halben Stunde in der andern Richtung heimwärts fahren. Hans und Liselotte wollen heute auch noch einen weiteren Ferientag geniessen und das Stilfserjoch kennenlernen. Eine Station vorher, am Grenzübergang auf dem Umbrailpass, verabschiede ich mich von ihnen.

Die Grenzwächterin zerstreut meine letzten Bedenken denn gleich in der Kurve sei der Wanderweg gekennzeichnet. Im Restaurant stärke ich mich noch vor dem zu erwartenden Abenteuer mit einem Apfelstrudel zum Kaffee und orientiere mich auf einer Wanderkarte, welche mir die Wirtin ausleiht. Und auf geht’s! Die erste Markierung weist in Richtung eines Heuschobers. Und die nächste? Nichts! Mist. Irgendwie muss ich einfach die Strasse im Auge behalten und steige halt auf weglosem Pfad neben wiederkäuenden Kühen über die Alp hinunter zur nächsten Haarnadelkurve. Von hier aus hat es viele frische Wegmarken und auf nicht viel begangenem Pfad kreuzt man ab und zu in der Direttissima die Autostrasse. Ein Stück weit begleite ich die Murazina auf ihrem Weg, den sie sich ins Tal hinunter sucht. Kein Mensch weit und breit. Ab und zu der schrille Pfiff eines Murmeltiers. Wie eine bergwärts rollende braune Kugel sieht ein Jungtier aus, das sich vor meinen Blicken retten will. Etwa in der Mitte des Tales ist die Autostrasse nun nicht mehr geteert. Der Wanderweg führt hier nun hinunter über den Bach, wo immer noch Reste einer Lawine langsam dahinschmelzen. Bald schon tönt sein Rauschen aus der Tiefe einer Schlucht herauf, während mein Weg hier oben über einen weichen Teppich von Moos und Tannennadeln durch einen würzig duftenden Wald führt. Es ist nur ein kleiner Pfad über Stock und Stein und man muss nicht mal Pfadfinder sein, um zu erkennen, dass vor mir zwei Mountainbiker diesen Weg hinuntergefahren sind. Ein letztes steiles Stück führt mich hinunter in ein Skipistengebiet und vor mir liegt grün und friedlich das Val Müstair. Nur gut zwei Stunden bin ich unterwegs gewesen.

Val Müstair

In einer lauschigen Gartenwirtschaft hinter einem Hotel, welches wie ein altes Gespensterschloss aussieht, finde ich mich wieder hinter einem Salsiz und einem Glas Weisswein. Das Informationsbüro nebenan öffnet erst in einer halben Stunde und ich möchte eine Karte haben von dieser Gegend. Schon immer wollte ich einmal eine Wanderung machen im Nationalpark. Wann kommt schon eine bessere Gelegenheit? Vielleicht reicht es heute noch, um bis nach Fuldera zu kommen. Aber die Frau von der Tourist-Information rät eher ab, weil es dort nur ein Hotel gibt. Ich versuche also zuerst hier mein Glück. Im Hotel Grusch Alba, der ältesten Herberge im Münstertal bekomme ich ein hübsches Einzelzimmer für 50 Franken. Jetzt kann ich mir also noch einen gemütlichen Nachmittag machen und in aller Ruhe für morgen einen Schlachtplan zusammenstellen. Was ich heute abend noch unternehme, ist auch schon klar: Hier im Restaurant gibt es Capuns. Und in der Kirche ist um halb neun ein Konzert vom Duo Nova mit Violine und Gitarre angesagt. Und ich geniesse. Ein wunderschöner Ferientag klingt aus mit Kompositionen von Pablo de Sarasate, Nicolo Paganini und anderen. Denitsa Kazakova beim Geigenspiel zuzusehen ist genauso ein Genuss wie den Beiden zuzuhören. Für den Kollektentopf habe ich zuwenig Schweizergeld, aber ich hoffe, dass meine letzten dreissigtausend Lire trotzdem willkommen sind.

Samstag, 31. Juli 1999

Mein Erster Eindruck beim Erwachen ist, dass meine Wanderung durch den Nationalpark heute ins Wasser fällt. Es hat geregnet und unfreundliche Nebelschwaden steigen aus allen Taleinschnitten wohin das schlaftrunkene Auge reicht. Aber bis das Postauto um 8.55 Uhr  abfährt, sieht man am Himmel schon mehr Blau als Grau und die Foto vom Crusch Alba kann ich sogar mit etwas Morgensonne knipsen.

Hotel Crusch Alba

Die Ebene beim Ausgangspunkt Buffalora liegt ruhig und noch verträumt da. Bevor man zur Grenze des Parks kommt, muss man zuerst einen leichteren Aufstieg in Kauf nehmen und erst beim Punkt 2378 ist die grosse Info-Tafel was man alles darf und nicht darf. Kaum ein paar Schritte später winkt mir schon das erste Edelweiss zu und bis ich wieder zur Waldgrenze komme, hört ihr Winken gar nicht mehr auf.

„meine“ Edelweiss

Es ist sehr ruhig. Ausser den beiden jungen Frauen, welche ich auch im Postauto getroffen habe, und die ein gutes Stück vor mir sind, trifft man keine Menschenseele weit und breit. Auch kein Steinbock und keine Schlange. Ab und zu ein Vogel, der durch die Lüfte kreist. Aber mir gefällt diese Stille. Schon geht es gegen Mittag und der Weg führt über ein etwas flacheres Gelände am Munt la Schera vorbei. Von hier aus könnte man einen Abstecher machen um die Aussicht auf dem Gipfel zu geniessen, aber ich bin um die bereits bezwungenen 410 Höhenmeter schon stolz genug. Man sieht hier ins Tal hinunter Richtung Livigno, den Lago di Livigno und hinüber zur Bernina. Hinter den hohen Bergen, welche mir gerade gegenüber liegen sind wir noch am Mittwoch durchs Val de Camp und Val Viola gewandert. Aus dieser Perspektive sieht es gerade gewaltig aus.
Nun begegne ich langsam immer mehr Wanderern, welche sich von der andern Seite her aufgemacht haben. Entzückt  bleiben sie stehen und zeigen auf ‚ihre‘ ersten Edelweiss. Für mich ändert sich jetzt die Bildfläche. Ich komme durch niederes Gehölz aus Föhren und Gebüschen. Ausgebleichte, abgestorbene Wurzelhölzer ragen bizarr aus duklem, saftigem Grün.  Fällt ein Baumstamm über den Weg, wird einfach ein Stück von etwas zwei Metern herausgesägt. Dieser Teil rottet dann einfach neben dem Weg zusammen mit dem Rest des Baumes weiter, bis wieder alles zu Erde geworden ist. Diese Unberührtheit eines Waldes hat eine ganz besondere, aparte Schönheit. Dann wieder unberührte, nicht beweidete Alpwiesen. Da, direkt einen Meter vor mir zwei spielende Murmeltiere. Wahrscheinlich haben sie mich nicht gewittert und ich kann sie in aller Ruhe mit und ohne Objektiv betrachten.

am Munt la Schera

Auf der Alp la Schera ist ein Rastplatz, wo man sich etwas vertun kann. Von hier bis zur Postautohaltestelle Il Fuorn  ist es laut Wegweiser eine Stunde. Auf die untere am Punt la Drossa auch. Sandwiches kauend konsultiere ich den Fahrplan. An der unteren Haltestelle würde um 13.41 ein Postauto fahren mit guten Anschlüssen bis heim. Jetzt ist fünf vor eins. Wenn ich mich spute, schaffe ich das schon, nicht zuletzt, weil es ja bergab geht. Trotz dem Schnellgang, den ich eingeschaltet habe, lasse ich mir doch nicht nehmen, den verschiedenen Vogelstimmen zu lauschen, den würzigen Duft dieses urtümlichen Waldes einzusaugen und probiere das einzigartige Ambiente dieser Umgebung in mich aufzunehmen. Das sind die positiven Aspekte, wenn man allein unterwegs ist.
Ich bin sogar noch fünf Minuten vor dem Postauto an der Haltestelle. Auf der Fahrt nach Zernez beeindrucken die zerstörerischen Spuren des letzten Lawinenwinters. Hochspannungsmasten liegen wie ein Ballen zusammengeknülltes Zeitungspapier zusammengetragen an einem Haufen. Glänzend stehen auf deren alten Podesten neue Gittermasten, welche die Lücke im Leitungsnetz nun wieder geschlossen haben. Noch gewaltiger und höher hinauf als im Val Susasca verläuft die Grenze auf der gegenüberliegenden Talseite, wo die entwurzelten Bäume in Richtung Berghang am Boden liegen. Vom gewaltigen Druck der riesigen Lawine niedergewalzt.
Bis Davos kann ich sitzenbleiben. Hier schliesst sich meine Ferien-Rundreise für dieses Jahr. Müde, aber dankbar und wieder um viele Eindrücke reicher kann ich mir schon um acht Uhr daheim ein entspannendes Bad einlaufen lassen.

Vielen Dank allen, die dazu beigetragen haben, dass wieder eine Wanderung durchgeführt werden konnte und auch danke vielmals, dass ich mit Euch zusammen dabei sein durfte.